Dieser zweite vorweihnachtliche Newsletter präsentiert Menschenschicksale und Reiseerlebnisse und manchmal beides zusammen in einem Buch – wobei es mitunter auch die Reise zu sich selbst oder die Reise zu einem anderen Menschen ist. Solcherart Ausflüge präsentiert gleich der erste der fünf Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de jeweils eine Woche lang (Freitag, 07.12.18 – Freitag, 14.12.18) zum Sonderpreis zu haben sind. In dem Roman „Zeugnis zu dritt“ von Egon Richter, der übrigens tatsächlich direkt mit dem legendären Initiator und Organisator der legendären „Gruppe 47“, Hans Werner Richter, verwandt war, geht es um Annäherungen an eine Frau und deren Biografie. Die damaligen Konflikte sind aus heutiger Sicht eigentlich nur aus eigener Erfahrung oder aus guter Kenntnis von seriösen Quellen zur DDR-Geschichte zu verstehen. Im Übrigen ist man ebenfalls aus heutiger Sicht einigermaßen erstaunt, dass damals ein Titel wie „Zeugnis zu dritt“ überhaupt erscheinen durfte und dass kein lila-Haar-geleitetes Volksbildungsministerium dagegen Einspruch erhob …

Deal Nr. 2, „Sehnsucht nach Sonne. Geschichten vom Großen Fels bis zum Stillen Ozean“, ebenfalls von Egon Richter, ist aber nun ein wirkliches Reisebuch und Richters große Sehnsucht hieß damals Sibirien. Und Flugverspätungen gab es damals auch schon. Selbst in der großartigen Sowjetunion. („Das Flugwesen, es entwickelt sich …“)

Deal Nr. 3. trägt den anfangs nicht gleich verständlichen Titel „Hutschmerz“, stammt von Kristian Pech, und damit springt der Autor einer völlig unterschätzten und ebenso miss-verstandenen wie miss-handelten biologischen Spezies beiseite – den Pilililzen. Wenn Sie dieses leidenschaftliche Traktat gelesen haben, sind die Welt und Ihr Weltbild ein anderes. Und zwar gründlich, gründlich anders.

Deal Nr. 4 und Deal Nr. 5 stammen aus der Feder ein- und desselben Autors: Joachim Nowotny. In der spannenden Novelle „Letzter Auftritt der Komparsen“ finden gesellschaftliche Konflikte kein friedliches und fröhliches Happy-End. Im Gegenteil.

In Deal Nr. 5 sind zwei Kinderbücher zusammengepackt – „Ein Lächeln für Zacharias“ und „Der Popanz“. Und damit wieder zurück oder auch vorwärts zum Anfang zum aktuellen Deal der Woche Nr. 1.

Erstmals 1968 und inzwischen auch schon wieder EIN HALBES JAHRHUNDERT HER erschien im Rostocker Hinstorff-Verlag der Roman „Zeugnis zu dritt“ von Egon Richter: Zwei Erzähler gehen – gleichsam im epischen Teamwork – dem Schicksal von Elisabeth Möbius nach; forschen, prüfen, decken Unbekanntes auf und gelangen schließlich zu einer Lösung. Und wer ist sie, die Elisabeth Möbius? Eine talentierte Pädagogin, oder einfach eine überforderte Frau? Eine Frau, deren geliebter, hochbegabter Sohn kurz vor dem Mauerbau die DDR verlässt. Eine Frau, die sich nicht damit abfindet, dass sie deshalb den geliebten Lehrerberuf aufgeben muss. Eine Frau, die Fehler gemacht hat, aber trotzig helfende Hände ausschlägt. Als erster von denen, die sie gekannt haben, äußert sich …

LOTZ

Der Tag, an dem ich sie kennenlernte, war ein sehr gewöhnlicher Tag, und ich erinnere mich an ihn nicht so sehr ihretwegen als vielmehr wegen des höchst unerquicklichen Vorkommnisses, mit dem er für mich begann.

Es war ein grauer, blätterloser Märztag, und aus niedrigen Wolken strichen dünne Regenfäden über die Stadt. Bei so einem Wetter bekomme ich selbst in überheizten Räumen ein nasskaltes Frostgefühl, und es kostet mich große Mühe, der Versuchung zu widerstehen, unter die wärmenden Daunen zurück zu kriechen. Meist überwinde ich sie dadurch, dass ich mich auf das Anziehen konzentriere. Sorgfältiges Anziehen stellt für mich eine Art sportlicher Startsituation dar.

An diesem Morgen nun dehnte ich das Ankleiden ungebührlich lange aus, und nicht zuletzt deshalb passierte mir das Malheur, eine halbe Stunde zu spät in die Klinik zu kommen. Unpünktlichkeit aber stört mich. Sie stiehlt mir die Zeit und damit die Möglichkeit, mich länger und intensiver mit einem Gegenstand zu beschäftigen. Ich hasse Unpünktlichkeit, und da ich selten unpünktlich bin, ist mir dieser Tag so deutlich in Erinnerung geblieben.

Meine Abteilung liegt im obersten Stock der Klinik. Es ist eine im Verhältnis zur Klinik sehr kleine Station, bestehend aus mir und einer nur halbtags beschäftigten Sekretärin; sie ist grau meliert, dabei etwas füllig und mit den wenig verdeckten Komplexen unerfüllter Mütterlichkeit behaftet. Sie schreibt die Untersuchungsprotokolle, erledigt die Post, kocht einen außerordentlich starken Kaffee, und manchmal werde ich das Gefühl nicht los, dass sie trotz der Schweigepflicht in ihrem sicherlich recht interessierten Kreis gleichaltriger Freundinnen über vieles spricht, was sie hier erfahren oder miterlebt hat.

Der Eingang zu meiner Abteilung ist durch eine Stahltür gesichert. Ich weiß nicht, was sie verschlossen hat, bevor diese Abteilung hier oben eingerichtet wurde; ich weiß nicht, was sich hinter ihr verbarg, und ich weiß nicht, warum sie beim Umbau nicht entfernt wurde. Es interessiert mich auch nicht; sie ist schneeweiß lackiert und so dem Habitus des Hauses angepasst. Es ist eine keimfreie Tür, und – sie entspricht mir. Sie schließt, im buchstäblichen Sinne, den morgendlichen Auftakt meines Tagesablaufs ab. Wenn ich sie passiert habe, werde ich mit einer Fülle von Problemen konfrontiert, die mit widerwilligem Aufstehen, Ärger über allzu frühe Telefonate, schlechtem Wetter und ähnlichen die Stimmung beeinflussenden Faktoren nichts mehr zu tun haben. Die Tür, wenn sie hinter mir ins Schloss fällt, sichert mir eine mindestens achtstündige durch nichts gestörte Arbeitszeit. Insofern kommt die Tür auch meinem Charakter sehr entgegen.

Ich ging in mein Zimmer, hängte meine Garderobe in den kleinen einteiligen Schrank, dessen Tür nie richtig schloss, und nahm den weißen Kittel heraus. Schneeweiß und keimfrei wie die Stahltür. Mit dem Überziehen des Kittels erfüllte ich sowohl eine Vorschrift der Hausordnung als auch einen rituellen Akt. Normalerweise brauchte ich keine Bekleidung dieser Art, ich könnte meine Patienten ebenso gut im Straßenanzug empfangen und behandeln.

Drei Punkte allerdings waren es, die mich im Laufe der Zeit dennoch von der Notwendigkeit des weißen Kittels überzeugt hatten. Einmal entsprach er wie gesagt der Hausordnung ebenso wie die weißen Betten, die weißen Türen, die weißen Schränke, die weißen Schwesternhauben und das weiße Geschirr. Weiß ist die Haus-Atmosphäre, obwohl dies Haus oft andere Farben nötiger hätte. Aber weiß gehört sich, weiß ist hygienisch, weiß ist steril.

Wer in einer Klinik arbeitet, hat keimfrei und weiß zu sein. Beharrlichkeit in der Tradition. Es kann einem imponieren. Zum anderen ist das Anziehen des weißen Mantels für mich selbst so etwas wie der Beginn eines Arbeitstages nach Passieren der weißen Stahltür. Zum dritten aber, und das ist letztlich der für mich entscheidende Faktor, hat der weiße Kittel eine auf andere gerichtete Funktion: er wirkt auf den Patienten. Der weiße Kittel lässt den Patienten vertrauensselig und offenherzig werden, er macht ihn einsichtig und bisweilen sogar folgsam, er verschafft seinem Träger Autorität und Einfluss.

Ich zog den Mantel an, wusch mir die Hände, verschloss mein Zimmer und trat auf den Gang hinaus, der am Zimmer der Sekretärin vorbei zu den Ordinationsräumen und zum Wartezimmer führt. Ich wusste, dass ich nur zwei, drei Schritte zu tun brauchte, um die Sekretärin hinter ihrer Schreibmaschine hervorzulocken. Sie pflegt dann die Tür zu öffnen und darin stehen zu bleiben, um mich zu begrüßen. „Guten Morgen, Herr Doktor’“, sagte sie, und ich sah ihr an, dass sie in Gedanken hinzufügte: Es ist schon neun Uhr! „Eine Dame wartet“, sagte sie.

„Schön“, sagte ich, „wenn Sie die Abschlussprotokolle über die Untersuchungen der Fettsüchtigen fertig haben, bringen Sie sie mir bitte rein. Ich will das noch mal durchsehen.“ Ich sah ihr an, dass sie noch etwas sagen wollte, aber ich hatte keine Lust, es mir anzuhören. Ich ging an ihr vorbei, aber bevor sie ihre Tür schloss, sagte sie doch noch: „Die Dame wartet schon eine halbe Stunde.“

„Warten ist das halbe Leben“, sagte ich, aber sie hatte ihre Tür bereits geschlossen. Ich ärgerte mich über meine Antwort, über die Allerwelts-Abgedroschenheit. Ich war nie schlagfertig, meine scheinbar schlagfertigen Antworten sind oft nur läppisch. Ich habe ein langsames Reaktionsvermögen. Ich muss alles, was ich erlebe, erst in Ruhe durchdenken. Erst dann bin ich zu richtigen Reaktionen fähig. Mein Beruf kommt mir dabei entgegen, wie ich auch im Allgemeinen glaube, dass sich viele Menschen ihre berufliche Tätigkeit weit mehr nach Eingebungen und mit unzureichenden Vorstellungen als nach ihren Anlagen und Fähigkeiten aussuchen.

Die Diskrepanz zwischen ihrer Leistungsfähigkeit und den objektiven beruflichen Anforderungen wird in Raum und solchen Fällen vielfach Ursache von Störungen in der Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen, und manche der Betroffenen landen dann in meiner Praxis. Es sind die wenigsten, allerdings. Die meisten versuchen ihr Versagen zu überdecken. Sie werden oft autoritär oder neigen gar dazu, mit unredlichen Mitteln ihre Position zu behaupten. Manche werden zu einer Plage.“

Neun Jahre später veröffentlichte derselbe Autor im selben Verleg ein ungewöhnliches Reisebuch – erstmals 1977 erschien im Rostocker Hinstorff-Verlag „Sehnsucht nach Sonne. Geschichten vom Großen Fels bis zum Stillen Ozean“ von Egon Richter: In Geschichten und Berichten, in Wort und Bild beschreibt dieses Buch Leben und Treiben auf dem „siebenten Kontinent“. Es erzählt vom sagenumwobenen Mangaseja und vom Ursprungsland der Indianer, von einem Pelzkaufmann, der Amerika erobern, und einem Reporter, der keinen rohen Fisch essen wollte, von einem Kaiser, der Alaska verkaufte, und einem Mann, der eine diamanthaltige Friedenspfeife rauchte, von einem Schriftsteller, der eine Eisenbahn baute und nebenbei eine Millionenstadt gründete, von dem ältesten See der Welt und dem Wunderkraut Tshen-tshen. Das Buch berichtet über einen Professor, der die Stadt seiner Vorfahren versinken ließ, und über den Kosakenhetman, der ein Tatarenreich eroberte, sowie über einen Schamanen, der sein Kostüm verschenkte. Es schildert die dramatische Rettung von Schiffbrüchigen und den Zustand eines Marineoffiziers, der eine vergessene Flussmündung wiederfand sowie die Reise in einem Flugzeug, in dem ein Schaukelpferd reitet. Von Pferdehirten, Goldgräbern und Diamantenschürfern ist die Rede, von Eiswüsten, in denen Tomaten wachsen und Milch in Kiloblöcken verkauft wird, von einem Fernsehturm, der aus einem alten Kran besteht, von Männern, die niemals Glatzen bekommen, und von einer Stadt, in der Computer Erdölfelder „errechnen“. Berichtet wird von einem See, in dem man Fische zwischen Lärchenwipfeln fängt, und von einem voreiszeitlichen Urwald, in dem Tiger und Wölfe hausen und Bären aus den Bäumen springen. Ein Mann und eine Frau bereisen das Land zwischen Großem Fels und Stillem Ozean, kriechen ins Ewige Eis und fliegen über glühende Steppen, durchstreifen enge Straßen in alten Siedlungen und wandeln auf den breiten Boulevards neuer Großstädte. Sie lernen Unbekanntes kennen und scheinbar Unverständliches verstehen – überall treffen sie Menschen, die im Kampf mit den Unbilden der Natur einen Erdteil mit unermesslichen Reichtümern erschließen und die das einst unwirtliche Gebiet in ein Land unbegrenzter Möglichkeiten verwandeln. Bevor es aber losgeht, soll auch hier das seinem Buch vorangestellte Lob Egon Richters für seine damalige Reisegefährtin zitiert werden: „Ich danke Sofja Lwowna Friedland für ihre umfangreiche Hilfeleistung als Dolmetscherin und landeskundliche Beraterin – man beachte übrigens den überraschend mecklenburgischen Namen von Sofja Lwowna. Ob sie wohl von den einst von Katharina der Großen nach Russland eingeladenen Siedlern abstammt? Ob sie überhaupt noch lebt? Immerhin ist auch dieses Buch schon wieder 41 Jahre her. Und rechnet man diese Zahl mit dem vom Autor Egon Richter mit 40 Jahren angegebenen Alter von Ljuba zusammen, dann müsste sie jetzt 81 Jahre alt sein …

Und noch ein Hindernis stellt sich den beiden Sibirien-Reisenden entgegen – der sprachlose Lautsprecher auf dem damals jüngsten, modernsten und schönsten Moskauer Flughafen Domodedowo. Panimajetje, ili njet?

„Die Säule im Ural

Die Stunden verrinnen. Ljuba hat es aufgegeben, sich nach dem Abflugtermin zu erkundigen. Die kornblumenblau gekleideten Aeroflot-Damen verweisen achselzuckend auf den Lautsprecher. Der Lautsprecher schweigt. Draußen rauscht der Regen. Von den hohen Glaswänden laufen Wasserbäche.

Aufgeregte Franzosen warten auf eine Nonstopmaschine nach Chabarowsk, eine Arbeiterfamilie aus Kiew mit Kisten, Kästen, Koffern und „Seesäcken“ zieht um nach Bratsk, ein lauter Schwarm amerikanischer Touristen reist nach Irkutsk. VISIT SIBERIA! Domodedowo, Moskaus jüngster, modernster und schönster Flughafen, ist Europas Tor gen Osten.

Ljuba fügt dem variationsreichen sibirischen Leitspruch HUNDERT KILOMETER SIND KEINE ENTFERNUNG – HUNDERT RUBEL SIND KEIN GELD – HUNDERT GRAMM SIND KEIN SCHNAPS nun noch die Bemerkung hinzu: „Hundert Stunden scheinen auch keine Zeit zu sein!“

Zehn Tage lang haben Ljuba und ich uns auf diese Reise vorbereitet, hat das lockende, abenteuerverdächtige Sibirien all unsere Gedanken in Anspruch genommen. Unermüdlich hat Ljuba Aussprachen und Interviews organisiert: Schriftsteller, Journalisten, Rundfunkleute, Aeroflotdirektoren und Geologen, Kohlespezialisten, Erdölfachleute, Verkehrsexperten und Meteorologen waren unsere Partner. Taschen und Mappen haben sich mit Prospekten und Tabellen, Monografien und Statistiken, unsere Notizbücher mit Merksätzen, Hinweisen, Exzerpten und Interview-Niederschriften gefüllt. Gestern Abend, als Ljuba die Flugkarten besorgt hatte, sank sie erschöpft in einen bunten Hotelsessel des „Rossija“ und erklärte: „Ich glaube, wir brauchen nicht mehr nach Sibirien zu fliegen. Wir wissen schon alles!“

Ljuba kenne ich seit Jahren. Stets hat sie solche „abschließenden Bemerkungen“ parat. Klein und kugelrund, erweckt sie in ihrer emsigen Betriebsamkeit den Eindruck quirliger Nervosität. Dabei steckt die vierzigjährige Moskauer Literaturwissenschaftlerin voll Hilfsbereitschaft und liebenswerter Fürsorglichkeit, weit über das für diensteifrige Reisebegleiterinnen übliche Maß hinaus. Ohne Ljuba wäre ich aufgeschmissen!

Unter ihrem schwarzen Wuschelhaar steckt ein Kopf voller Geschichten. Neulich, als wir in Museen und Archiven einen trocken-historischen Studientag hinter uns gebracht hatten, versuchte sie mich mit folgender Legende auf Sibirien „einzustimmen“: „Weißt du – wir überlegen alles noch einmal. Bestimmt kennst du noch nicht den Angestellten des alten Nowgoroder Kaufherrn Gjurata, der schon vor neunhundert Jahren hinter den Ural wanderte, wo das Pelzland Mangaseja lag und wo die Jugrer wohnten. Na, du kennst ihn nicht, bitte sehr. Dabei will er dort das ‚allerkälteste Meer‘ gefunden haben und ganz verabscheuungswürdige Leute, die ‚Aas und Leichen verzehrten‘.“

„Ljuba“, sagte ich, „weißt du nicht etwas Besseres?“

„Doch“, sagte sie. „ich muss mich von Sergei verabschieden!“

Jetzt also stehen wir beide erwartungsvoll vor den regennassen Glaswänden des Flughafens Domodedowo – Ljuba hat sich von ihrem Sohn Sergei und dem Ingenieurs-Gatten verabschiedet – und unser in Taschen und Koffern verpacktes Papierwissen schaukelt auf einem Elektrokarren einem unsichtbaren Flugzeug entgegen.

Keiner von uns hat Sibirien je gesehen. Jeder hängt seinen eigenen Vorstellungen über das ferne Unbekannte nach. Trotz der informationsreichen Moskauer Studientage fällt mir jetzt nur das Übliche ein, Kindermärchen, Schulbuchweisheiten, Literaturbruchstücke, euphorische Zeitungsberichte, schemenhafte Bilder aus lyrischen Dokumentarfilmen: Hundeschlittengespanne und Rentierherden, klirrende Fröste und hungrige Wolfsrudel, ein sagenhafter Meteor und das größte E-Werk der Welt, Holzhäuser, Bohrtürme, ewiges Eis, Transsibirische Eisenbahn und Anton Tschechows Wort über die Taiga: Nur die Zugvögel wissen, wo sie endet. Ljuba und ich erwarten ein Land voller Wunder.

Endlich taucht ein gelber Bus auf. Durch den strömenden Regen bringt er uns zum Flugzeug. In der Garderobe der TU 104 nimmt uns die Stewardess die feuchten Mäntel ab. Schließlich erwischen wir zwei Sessel über den Tragflächen. Ljuba schneidet Grimassen: Unter uns dröhnen die Düsenaggregate. Auf den Bulleyes zittern Wasserschlieren.

Gegen 14 Uhr Moskauer Zeit starten wir. Die Maschine zieht steil nach oben, zuerst durch eine graue Regenwand, dann, minutenlang, durch weiches milchiges Nichts. Moskau schrumpft zu einem Mosaik fast geometrischer Formen zusammen, zu kleinen Fetzen, die entschwinden. Plötzlich überfällt uns strahlendes Licht. Ein glänzend blauer Himmel tut sich auf. Ljuba blinzelt. „Na. was sagst du? Wir fliegen in die Sonne!“ Weit unter uns bilden Wolkengebirge eine schneeweiße Südpollandschaft.

Nach anderthalb Stunden öffnet sich der grüne Plüschvorhang, der die Pantry von den Passagiersalons trennt, und die Stewardessen balancieren blaue Plastetabletts mit einem Imbiss durch die Gänge. Sehr zu Ljubas Überraschung, die mir noch kurz vorher versichert hat, auf Inlandsstrecken gebe es kein Essen. Aber ihre europäischen Aeroflot-Erfahrungen haben hier keine Gültigkeit: Wir bekommen die obligatorische Bordmahlzeit – gebratenes Huhn auf Reis mit jungen Erbsen. Schwarz- und Weißbrotschnitten von anderthalb Zentimeter Stärke, einen Berg fetter, stark gewürzter Wurstscheiben, ein süßes Brötchen, einen makronenartigen Kuchen, Kompott aus gelben Pflaumen, Tee und ein Glas Wasser. Aeroflot ist nicht nur die größte, sie ist auch die am meisten abstinente Luftverkehrsgesellschaft der Welt: kein Tropfen Alkohol wird während des Fluges ausgeschenkt.

Ljuba zieht die Gardine vor das Fenster und schläft ein. Unter uns singen die Düsen. Je weiter wir nach Osten kommen, desto mehr verändern die Wolkenfelder unter uns ihre Farbe: aus Weiß wird im wechselnden Sonnenlicht Rosa, dann golddurchwirktes Rot, endlich ein mattes Grau. Irgendwo weit unter dem Farbenspiel liegt in abendlicher Dunkelheit der Ural, Europas Grenze. Ich kann ihn nicht sehen. Nicht einmal die Stewardess hält es für nötig, den Erdteilwechsel mitzuteilen. Die meisten Passagiere schlafen. Wir fliegen über Sibirien.

Mein Vater hat nie reisen können. Das Geld reichte stets nur für Miete und Lebensunterhalt. Mein Vater liebte die Atlanten und die Fotobände, die Forschungsberichte und die Reisebeschreibungen, Er machte damit weite Fahrten in alle Winkel der Erde, er träumte sich in ferne Kontinente und unbekannte Welten hinein. Seine einzige „Auslandsreise“ war ihm ein Gräuel und endete mit einer schweren Verwundung in einem ukrainischen Dorf.

Danach wurden die Atlanten zugeklappt. Erst später, als Ukrainer, Russen und mandeläugige „Mongolen“ aus Sibirien unseren Ort bevölkerten und mein Vater anfing, gemeinsam mit ihnen ein Land aufzubauen, in dem solcher Art „Auslandsreisen“ für immer verboten sein sollten, schlug er ab und an die vergilbten Reisebücher wieder auf. Aber die Zeit lief ihm davon. Nur das Fernweh und die Sehnsucht vererbte er den glücklicheren Nachkommen. Die Sehnsucht nach dem fernen Land, über dem die Sonne aufgeht.

Von ihm erfuhr ich auch von jener Säule auf der Passhöhe des Ural, deren westliche Seite die Aufschrift EUROPA und deren östliche, nach Sibirien weisende, die Bezeichnung ASIA tragen soll. Asia – das war Märchenhaftes und Abenteuerliches. Furcht einflößendes und Gewaltiges. Fridtjof Nansen und Amur-Partisanen. Asia war Wunschtraum und Verlangen. Asia war vor allem unüberschaubare Größe. Mein Vater und unsere heimischen Lexika sprachen von der „sibirischen Landmasse“ zwischen Ural und Pazifik, Eismeer und „Mongolei“ – dies war zeit meines Lebens Sibirien für mich: siebeneinhalbtausend Kilometer „lang“ und viertausend Kilometer „breit“, ein Ozean von Land, wie ich einmal bei Belinski gelesen hatte. Ein fast menschenleerer Ozean: mein Vater redete stets von 10, unsere Lexika sprachen von 20 Millionen Einwohnern – genau wusste es niemand. Es war eben Sibirien. Es war, sagte mein Vater, „die Hälfte der Sowjetunion und drei Viertel von ganz Russland“ (= RSFSR); es ist, sagt unser Lexikon, anderthalbmal so groß wie die USA und könnte die DDR einhundertdreißig Mal aufnehmen. Und dennoch ist, wie unsere Moskauer Recherchen ergaben, das nicht Sibirien! Sibirien ist „nur“ 10 Millionen km2 groß und reicht auch nur vom Ural bis zu den der Pazifikküste vorgelagerten Gebirgsketten des Tscherskiund des Stanowoigebirges.

Dahinter liegt der Ferne Osten, das sagenumwobene Daurenland am Amur und die eisige Halbinsel der Tschuktschen. die Ljuba immer Tschukotka nennt. „Es“ – das sind Sibirien und Fernost – hat nicht 10 oder 20, sondern gut 31 Millionen Einwohner, und auch das ändert sich von heute auf morgen. „Sibirien“, sagte Ljuba, als wir mit unseren Moskauer Untersuchungen am Ende waren, „ist überhaupt ganz und gar unfertig!“

Ich fühle einen schmerzenden Druck in den Ohren. Am Ende des Ganges flammt ein Leuchttransparent: NJE KURITJ! FASTEN BELTS. PLEASE. Ljuba ist aufgewacht und sagt aufgeregt etwas. Ich kann es nicht verstehen – aus neuntausend Meter Höhe fällt die TU mit rund neunhundert Stundenkilometern in einem steilen Landeanflug einer grauen Wolkenwand entgegen, durchstößt sie und taucht in tintenschwarze Nacht. Weit unter uns ist ein heller diffuser Schimmer. der sich nur langsam nähert und dann in einzelne Lichtflecken auflöst. Der Druck in den Ohren lässt nach, und Ljuba stellt freudig fest: „Wir landen.“

Unter uns überqueren zwei Lichterketten den kilometerbreiten Ob. Schließlich setzt die Maschine auf und rollt über weite Pisten einem hell erleuchteten Flughafengebäude entgegen. Ljuba und ich sind erregt, nach last fünfstündigem Flug können wir die Begegnung mit Sibirien kaum erwarten.“

Wissen Sie, was ein „Nonsens-Traktat“ ist? Nein, dann schauen Sie sich mal „Hutschmerz“ von Kristian Pech an: Dies ist ein kleines Werk, das ein subalternes Wissenschaftsobjekt, den Pilz, bedenkenlos überhöht. Die einhundert kurzen, gleichsam mit aufgesetzter Narrenkappe geschriebenen Notizen heben das betreffende Gewächs, nicht ohne auch dessen besondere Biologie zu rühmen, auf die Stufe des Göttlichen, des Kosmischen. Sie behandeln sein angeblich universelles Wirken in Vergangenheit und Gegenwart, decken behauptete Verschwörungen auf, geißeln Pilzfeinde und loben die wahren Pilzanhänger, Darstellungsmittel wie Übertreibung, Verdrehung, Spekulation, Parodie, Verballhornung finden sich an allen Ecken und Enden. Wenn Regeln gelten, dann diese: Alles wird gegen den Strich gebürstet und manches gegen den Strich Gebürstete ein weiteres Mal. Das Unwahrscheinliche ist wahr, das Wahrscheinliche ist unwahr. Eine sich fachliterarisch gebende Clownerie, die aber viel mehr als über den Pilz, so die hintergründige Absicht, über die Befindlichkeiten des Menschen aussagen will. Und so liest sich dieser ganze, nicht zu unterschätzende Nonsens – Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie den Buchhändler oder den Bibliothekar Ihres Vertrauens …

ERSTENS

Die folgenden Blätter unternehmen es, sich mit einem Wesen zu befassen, das von der Wissenschaft und nicht weniger von der Kunst unsäglich vernachlässigt und verkannt wird. Über dieses Wesen ist allerorts hanebüchen Falsches im Umlauf. Viele setzen sich mit ihm nur auf eine sehr vulgäre Weise ins Benehmen, indem sie es dutzendfach aus dem Erdboden herausdrehen oder eben abschneiden, mit Herdhitze behandeln und unter dümmlich geäußerten Vergiftungsängsten verschlingen. Meist aber trampeln auf ihm, ohne seiner gleichsam überirdischen Erhabenheit innezuwerden, der gemeine Mann, die gemeine Frau, das gemeine Kind einfach rauhbeinig herum, wo immer und wie zahlreich und in welcher Gestalt es sich ihnen auch zeigt. Dieses Wesen, das hoch über alles andere auf Erden gestellt werden muß, ist der Pilililz.

ZWEITENS

Warum aber nun Pilililz? Weil das bisher übliche Wort Pilz eine Wortmißgeburt ist. Weil es wie ein dekompressierter Rülps klingt. Wie ein hämorrhoidaler Fist. Wie der Tritt in eine Mistpfütze. Pilililz jedoch ist Engelsmusik, indianische als auch äthiopische Interjektion des Staunens, ein Stückchen Merseburger Zauberspruch, eine Formel für den Weltzusammenhang. Ohnehin steht hier Pilililz mit voller terminologischer Berechtigung. Es greift die erhabene Dreisilbigkeit des lateinischgriechischen Mutterwortpaares boletus/bolites auf und gibt sublimiert den

Lautungscharakter der alt- und mittelhochdeutschen Formen buliz/bülez wieder.

DRITTENS

Ein schlimmes Kapitel sind die Artnamen, mit denen die Pilililze bedacht werden. Hier geschieht vielfältiger Rufmord. Die Menschen greifen bei ihren Bezeichnungen zu allerhand Niederträchtigem, Denunziatorischem. Sie zögern nicht, Pilililzen die dreckigsten Namen anzuhängen, die ihre Phantasie hervorzubringen vermag. Im folgenden seien einige wenige Beispiele dafür angeführt. Da bekommt ein Pilililz den Namen Stinkender Schleimkopf verpaßt, ein anderer den Namen Rotschuppiger Dickfuß. Man redet leichthin von Schmutzbecherlingen und Afterleistlingen, von Schleimigen Kahlköpfen und Gefleckten Klumpfüßen, von Hundsruten und Mäuseschwänzen. Einfach skandalös. Auch die allzu menschlichen Bezeichnungen wie Wirrkopf, Zitterling, Zwitterling sind in dieser Hinsicht nicht weniger infam. Es kann für die verleumdeten Pilililze kein rechter Trost sein, daß mancher von den Menschen ausgegangener Terminus auch wieder auf die Menschen zurückschlägt. Ab und an hört man sie sich titulieren: Du Falscher Pfifferling. Oder auch: Du Gemeine Stinkmorchel.

VIERTENS

Den Pilililzen wird wenig Positives nachgesagt, das Beleidigende ist an der Tagesordnung. Während Raubvögel inzwischen zu ehrbaren Greifvögeln werden durften, während Unkräuter zu sympathischen Wildkräutern wurden, müssen sich die Pilililze, natürlich mit dem Hinweis auf ihre Biologie, weiterhin als niedere Pflanzen verunglimpfen lassen, als Schmarotzer, als Fäulnisbewohner. Dabei ist es doch nur intelligent, schon vorhandenes organisches Material als Existenzgrundlage für sich zu benutzen. So kann aus der schründigen Flanke eines Baumes unversehens ein ganzes Bukett von überaus schmückenden pilililzlichen Wesen hervorbrechen. Gleich Phönix aus der Asche, wie es eine Redensart sagt. Oder es kann schon nach kurzer Latenzzeit auf einer frischen Brandlichtung eines Kiefernwaldes, und in diesem Falle trifft die Redensart noch mehr zu, ein erstes pilililzisches Fanal erscheinen. Wohlgebaut, in Farben schwelgend, durchgeistigt. Aber wieso Redensart? Hier steigt tatsächlich Phönix aus der Asche, ob es die Pilililzverächter glauben oder nicht. Einen etwas besseren Leumund unter den Pilililzen haben allein diejenigen, die mit Bäumen und anderen Gewächsen in Symbiose leben und ohne die es sozusagen keine Wälder geben würde. Sie werden schon mal mit verkniffenen Lippen als die arbeitsamen Geister des Waldes bezeichnet.

FÜNFTENS

Die Menschen meinen es mit dem Pilililz wirklich nicht gut. Beispielsweise begnügen sie sich bei der Aufzählung seiner Körperteile, seiner Organe oft mit ganzen zwei Wörtern: Hut. Stiel. Will denn keiner begreifen, daß dieserart gerade mal eine Vogelscheuche auf einem Erdbeerbeet umschrieben werden kann? Hut. Stiel. Tote Gegenstände fungieren als Namensgeber für höchst Lebendiges. Zumindest muß es doch Kopf oder Haupt oder Leib oder Fuß heißen, und man sollte endlich auch die anderen Körperteile erwähnen. Die beharrlich verschwiegenen Lenden, den Nacken, die Wangen, das nie gewürdigte pilililzliche Gehirn. Dabei gehört gerade dieses zu der am höchsten organisierten und wunderbarsten Materie.

SECHSTENS

Kommt das Gespräch auf Pilililze, sagt man gern, sie schössen aus dem Boden. Eine unangemessene Formulierung. Noch zweifelhafter wird es, wenn man Wohnhäuser, Windräder oder anderes wie Pilililze aus dem Boden schießen läßt. Was haben Pilililze mit dem Arbeitstempo im Bauwesen zu schaffen? Und eben mit dem Waffenhandwerk? Was soll die Behauptung ihrer Militanz? Sie können doch nicht quasi zu Revolverhelden, Heckenschützen, Jägern, Wilderern umgedeutet werden. Die Pilililze, daran besteht kein Zweifel, sind höchst sensible, durch und durch sanfte Wesen. Selbst ihr beachtlich rasches Wachstum rechtfertigt es nicht, eine Anleihe bei der Ballistik zu machen.“

Den Abschluss des heutigen Newsletters bilden zwei Bücher von Joachim Nowotny – aus den Jahren 1981 und 1983/1986.

Erstmals 1981 erschien im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig die inhaltlich und formal bemerkenswerte Novelle „Letzter Auftritt der Komparsen“, in der ein gewisser „Krambach“ eine – nun sagen wir: Hauptrolle – spielt: Ja, der Krambach. Ein Mensch unter uns. Als er seine Chance erhält, will er es ihnen zeigen, seinem kühl kalkulierenden Chef und den Zauderern und Vorsichtigen, denen er begegnet. Und zwar mit einer großen menschlichen Komödie. Was aber geschieht, ist eher tragisch zu nennen. Es ereignet sich nicht auf den Brettern, die die Welt bedeuten, sondern in einem seltsamen Dorf, gleich nebenan, und widerfährt Menschen unmittelbar neben uns. Sie leben im Ausnahmezustand, denn der Tagebau rückt Stunde um Stunde näher. Er wird ihrem Bleiben am angestammten Platz ein sicheres Ende setzen. Ihm sehen sie entgegen, wie man in die Tiefe der Zeit schaut. Und ihre Aufmerksamkeit ist abgelenkt, gerade in jenen Augenblicken, in denen ein Kind ihrer bedarf. Ihm ist mit halber Aufmerksamkeit und mit Proklamationen nicht zu helfen, es benötigt die sorgende Hand, die ohne Hintergedanken und ganz aus dem Gefühl für die kreatürliche Not des anderen gereicht wird. Sie kommt zu spät. — Dass Krambach sein Stück nie schreiben wird, ist das kleinere Übel. Er hat auf der Bühne des Lebens versagt. Auf der Bühne heißt es meistens Prolog, hier heißt es …

Vorspann

Berichte dieser Art darf niemand fordern; sie schreibt man aus eigener Not. Die Reise trug zwar eindeutig dienstlichen Charakter, aber ihr Ergebnis steht im himmelschreienden Missverhältnis zum Auftrag. Was auf ein heiteres Spiel hinauslaufen sollte, geriet zu blutigem Ernst. Die Untersuchungen sind freilich noch nicht abgeschlossen. Vermutlich wird man sich auf die alles verwischende Formel vom Unfall mit tödlichem Ausgang einigen.

Tatsächlich gab es kurz vor dem tragischen Ende eine Verkettung nicht mehr beeinflussbarer Umstände. Die Voraussetzungen für eine Rettung mochten geschaffen worden sein. Aber der Balken war schmal und der Junge außer sich. Zwischen der Hand, die ihm gereicht wurde, und seiner, die Hilfe endlich annehmen wollte, fehlten wenige Zentimeter. Sie dürften in den Protokollen eine wichtige Rolle spielen, beschreiben sie doch jene schicksalhafte Lücke, über die sich die juristische Verantwortung allzu leicht verflüchtigen kann. Umso schwerer wiegt die moralische. Ich gestehe, dass ich noch unmittelbar vor der Katastrophe den Impuls spürte, auch ihr entkommen zu wollen.

Am Unglücksort – nun spreche ich auch schon vom Unglück – ereignete sich eine Art Slapstikszene, deren Verlauf jede Flucht ermöglicht hätte. Ich war als letzter auf den Schauplatz gekommen, denn der Städter in mir bedurfte einer größeren Ernüchterung, als sie vom Klang eines Martinshorns ausgeht. Das Große Haus, in dem ich mich sonst tagsüber aufhalte, befindet sich mitten auf dem verkehrsreichen Karlsplatz. Die elektronisch erzeugten Notschreie gehören beinahe zum Alltag; man lässt sich von ihnen nicht mehr aus der Arbeit reißen und fühlt sich noch stark dabei. Gearbeitet habe ich auch damals im Vorwerk. Freilich muss man mit der Spezifik meines Berufes vertraut sein, wenn man jenes rasche, kurzschrittige Auf- und Abgehen im ehemaligen Krautzschen Schlafzimmer als Arbeit begreifen will. Ich dachte konzentriert über mein Stück nach. Noch war keine Zeile geschrieben, und doch glaubte ich mich auf der Spur zu einer Idee, mit deren Hilfe sich der szenische Vorgang einem heiteren Grundgestus unterordnen ließ, was meinem Dienstreiseauftrag durchaus entsprach.

Erst als das Horn schwieg und die rotierende Warnleuchte einen blitzenden Reflex auf dem Oberlicht der Fensterscheibe hervorrief, erwachte ich jäh aus dem, was ich bis zu diesem Zeitpunkt für allein wichtig hielt. Ich lief über den flachen Hügel, der das Vorwerk vom Dorf trennt, und sah im Laufen schon die schreckliche Konsequenz meiner Bemühungen. Sah also Pongo auf dem Balken, der aus dem Schallloch des Kirchturms ragte, sah die tödliche Tiefe unter ihm und die Leute, die vor dem niedergetretenen Zaun standen und wie gebannt in die Höhe starrten, sah den Kordon der Polizei-, Feuerwehr- und Sanitätswagen, sah schließlich auch mich, der ich drauf und dran war, die unsichtbare Schranke zwischen jenen, die befugt, und denen, die es nicht sind, zu durchbrechen, um zu retten, falls noch etwas zu retten war.

Doch ein älterer Polizist trat mir in den Weg. „Wer sind Sie?“

Ich war eingehüllt in die halb geliebte, halb verachtete Sicherheit meiner Kluft aus stumpfgelber Cordhose und graugrüner Kutte und spürte doch die Dringlichkeit der Frage auf der bloßen Haut.

„Krambach“, sagte ich über die Schulter hinweg.

Der Mann hielt mich am Ärmel fest; ich entzog mich seinem Griff, blieb aber in einer Art halb gekrümmter Demutsgebärde stehen. Ich verfluchte meinen Bart, mit dem ich versuche, meinem breiten Biedermannsgesicht wenigstens den Anflug von Kunst dienender Askese zu geben; hier konnte er mir schaden.

„Krambach“, sagte der Polizist und machte Anstalten, meinen Ärmel wieder zu ergreifen.

„Ja“, sagte ich, „genau! Ich bin nicht zum Spaße hier. Ich bin Dramaturg, verstehen Sie, Dramaturg beim Städtischen Theater. Ich suche ein Stück.“

Als ich es aussprach, wusste ich, dass es das Dümmste war, was man in solchen Augenblicken zu seiner Legitimation sagen kann. Aber nun war es heraus; nicht von ungefähr entsprach es der Rolle, die ich hier gespielt hatte und in der ich so grausam durchfallen sollte. Der Polizist zog seine Hand fast ruckartig von mir; er trat einen Schritt zurück und sah sich Hilfe suchend nach jemandem um. Aber alles, was Augen hatte, blickte auf Pongo. Wir mussten unsere Szene allein zu Ende bringen. Ich, indem ich sein Misstrauen ignorierte, er, indem er sich ein Alibi verschaffte.

„Gehören Sie dazu?“ Er wies auf die Leute vom Vorwerk. Auf Bruno und Kitty, auf Gundel, auf das Gastwirtsehepaar, auf Josef und Guste, auf den Lehrer Krautz. Mit einem kommentarlosen Nein hätte ich aller Verantwortung enthoben sein können. Nein, ich gehörte wahrhaftig nicht zu ihnen, schon gar nicht in jenem Sinne, in dem man ein Schicksal teilt. Ich war erst wenige Tage im Dorf und hatte bis zum Wahrnehmen des Notsignals vor, es in wenigen Tagen wieder zu verlassen. Sie aber wollten oder mussten bleiben bis zum Ende der Frist, die ihnen gesetzt war. Und wenn sie dann doch gehen würden, beendeten sie keine Dienstreise, sondern gingen trotz aller Hilfe in ein neues, ungewisses Leben.

Ich war ihr Gast in einer Zeit gewesen, in der sie Gäste keineswegs gebrauchen konnten. Sie hatten meinen Einbruch in die harte Welt ihrer einsamen Entschlüsse geduldet, weil es ihnen an Kraft gebrach, das Hausherrenrecht wahrzunehmen, und weil ihnen der Boden, den sie mir hätten verweigern können, unaufhaltsam entglitt, ja, schon nicht mehr gehörte. Dieser Umstand verwischte die Unterschiede zwischen uns; er hob sie aber keineswegs auf. Jetzt, wo der Tod neben Pongo auf dem Balken saß, war die Verlockung groß, sie zu betonen.

Und doch sagte ich: „Ja. Ja, ich gehöre zu ihnen.“

Der Polizist gab mir den Weg frei. Auf seinem Gesicht erschien für einen Augenblick der Widerspruch jener Genugtuung, mit der der Mensch einen Kiesel aus dem Weg räumt, wenn es ihm schon nicht gelingt, den schweren Stein zu bewegen. Ich sah auch das. Sah mich zu den Leuten treten und meinen Augen die Richtung ihrer Blicke geben. Und wenn ich nun einen Bericht schreibe, dann nicht, um meiner Dienstpflicht zu genügen, sondern um dieses Ja zu begründen. Es war das erste spontane Bekenntnis einer Schuld, die ich mir ganz und gar bewusst machen will. Erst dann werde ich wieder arbeitsfähig sein.“

Zwei Jahre nach dem „letzten Auftritt der Komparsen“, also 1983, legte Joachim Nowotny im Kinderbuchverlag das Büchlein „Ein Lächeln für Zacharias“ vor: Zacharias erhielt in Mathematik eine Fünf. Nun sehen ihn alle böse an: Die Mutter, der Vater und auch die nette Lehrerin Frau Sengewald. Nun ist Zacharias hungrig nach einem Lächeln, das er endlich beim schwerhörigen Großvater findet, der nichts von einer 5 weiß. Noch einmal drei Jahre später, also nunmehr 1986, erschien erstmals bei der Edition Holz im Kinderbuchverlag Berlin „Der Popanz“: Hinter dem Haus von Großmutter Pimpelmut und Großvater Allesnix fließt ein Bach, der den kleinen Petrik magisch anzieht. Die Zauberin Amanda Grollmus, der Schandarm Pannak und Herr Kantor Haubold wollen Petrik Angst vor dem tiefen Bach einjagen, nichts hilft. Doch plötzlich steht ein riesengroßer, gefährlich aussehender Popanz aus Holz oben am Damm.

Zwei schöne Geschichten zum Schmunzeln und Nachdenken für Leseanfänger oder die Kleinen auch zum Vorlesen. Hier der Anfang von

Der Popanz

Das ist eine Geschichte von vorgestern. Das kann der Tag vor gestern sein oder auch einer vor siebenundsiebzig Jahren. Heute wie damals fließt das Wasser zu Tal. Als Rinnsal im Gebirge, als Graben im Oberland und unten im Dorf als Bach. Und wo der Bach am tiefsten ist, da steht das Haus von Großvater Allesnix und Großmutter Pimpelmut.

Großvater Allesnix arbeitet tagsüber im Wald. Anders die Großmutter Pimpelmut. Sie bleibt daheim und hütet die Küken. Die Glucke lockt, der Hahn spektakelt, doch die Küken wollen nicht hören. Sie laufen hierhin, dorthin, auf den Weg, in den Garten, unters Winterholz. Großmutter Pimpelmut kann vor Schreck kein Glied rühren. Was da alles passieren mag! Auf dem Weg knarren die Räder, über dem Garten schwebt der Habicht, und im Holz lauert der Ratz. Großmutter Pimpelmut bleibt der Atem weg. Sie fasst sich ans Herz und blickt Hilfe suchend zum Himmel.

Auf diesen Augenblick hat Petrik gewartet. Er muss immer, wenn der Großvater auf Arbeit ist, in der Stube bleiben. Darf höchstens im Hof spielen. Ganz selten im Garten. Nie aber auf der Wiese. Denn dort fließt der Bach. Und der ist tief.

Doch heute schert sich Petrik nicht um das Verbot. Er springt, schnapp! über die Schwelle, schwupp! ums Haus und hopplaheh! auf den Damm. Das Wasser fließt und fließt. Wo die große Erle steht und der Bach einen Bogen um ihre Wurzel macht, blinken tief unten die Fischbäuche, steigen Blasen auf und ziehen wilde Strudel alles zum Grund.

Petrik beugt sich über einen Querast und blickt ins Wasser. Blinkt es nicht silbern, quirlt es nicht golden, und strudelt es nicht blau? Wenn man hinunter könnte, wenn man es fassen könnte!

Wie würde der Großvater staunen, wenn Petrik eine Handvoll Silber, ein Kügelchen Gold oder ein Brinkel Blau heraufbrächte. Petrik beugt sich tief und tiefer und zieht langsam seinen Körper nach.

Ehe er jedoch das Gleichgewicht verlieren kann, packt ihn jemand am Kragen und zieht ihn zurück auf den Damm. Wer immer das Schlimmste befürchtet, der sieht manchmal mit den Ohren. Und findet selbst im Himmel die Hölle. Als Großmutter Pimpelmut nach oben blickte, hörte sie doch das Schnapp und Schwupp und Hopplaheh. Das Blau vor ihren Augen wurde gleich grätenbleich, modergrün und strudelschwarz. Ihre Füße begannen wie von selber zu laufen, um das Haus, durch den Garten, auf den Damm. So kam sie gerade noch zurecht.

Aber nun ist der Atem wieder mal weg. Er reicht eben noch zu einem Seufzer. „Ihr Leute, ihr Leute!“

Dann lehnt sich Großmutter Pimpelmut erschöpft an den Erlenstamm und hält Petrik fest. Der kann zappeln, soviel er will, den lässt sie nicht los. Auch nicht, als sie wieder Luft bekommt.“

Etwas Luft und eine kleine Pause, die können Sie jetzt vielleicht auch gebrauchen, nach diesem schnellen, weiten Ritt durch fremde Länder und Menschschicksale, Jeder der fünf Deals dieser Woche hat auf seine Weise neugierig gemacht, weiter zu lesen. Und warum soll man nicht alle fünf Deals auf einmal …

Schließlich haben wir bald weihnachtsbedingt etwas mehr Zeit, hofft man jedenfalls. Und dann könnte man sich doch genauer mit Elisabeth Möbius und mit Krambach bekanntmachen, Krambach, nach Sibirien reisen, einen „Verein der Freunde und Förderer der Pilililze in Wald und Flur e.V.“ VdFuFdP“ gründen sowie sich die beiden hübschen kleinen Kinderbücher ansehen.

Aber ein paar Tage sind es ja noch bis zu den Festtagen, die man auch für ein ganz persönliches Lesefest oder ach Vorlesefest nutzen kann. In diesem Sinne viel Spaß beim Lesen, eine besinnliche und besonnene Vorweihnachtszeit und nicht zuletzt gute Erholung und bis demnächst.

Und ganz zum Schluss noch der zumindest literaturgeschichtlich interessante  Hinweis: Egon Richter war der Neffe von Hans Werner Richter. Und ein bekennender Bansiner, Bansin auf Usedom.

Und noch ein allerletzter Literaturtipp – „Geschichten aus Bansin“ von Hans Werner Richter, dem berühmten Onkel: Sieben Erzählungen von einer Insel. Die Insel heißt Usedom und der Ort, in dem sie alle spielen, Bansin. Er ist die Heimat von Hans Werner Richter, dem legendären Leiter der Gruppe 47.

Alle Erzählungen handeln von Richters Vater, der nacheinander Fischer, Bademeister und Tankwart war. Der Vater war kein Held, obwohl in einer Krieger- und Heldenzeit großgeworden. Zwar konnte er Kaisers Förster reinlegen, aber dafür wurde er auch von seinen Freunden reingelegt und zum Schützenkönig gekürt. Nur einmal wäre er fast ein Held geworden, als Entdecker von Beutegut: einige tausend Nachthemden. Aber auch die verflattern im Wind der Zeiten.

Von solchen Zeiten erzählt Richter; von unserer Geschichte in den zwanziger Jahren bis zur DDR. Aber nicht, wo sie gemacht wird, sondern wo sie sich auswirkt, bei den einfachen Leuten.

Über die EDITION digital Pekrul & Sohn GbR

EDITION digital wurde 1994 gegründet und gibt neben E-Books (vorwiegend von ehemaligen DDR-Autoren) Kinderbücher, Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über MV. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, derzeit mehr als 900 Titel (Stand Dezember 2018).

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