Das mag vielleicht kein besonders schöner Anblick gewesen – diese Raubritterköpfe auf den eisernen Stangen des Köpenicker Schlosses, von denen im zweiten der insgesamt fünf aktuellen Angebote die Rede ist, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 23.04. 21 – Freitag, 30.04. 21) zu haben sind. Aber die Machtverhältnisse waren damit immerhin und ziemlich eindeutig geklärt, wie wir in den Märkischen Miniaturen von Hans Bentzien erfahren – „Jenseits der Oder. Streusandbüchse und eine vorteilhafte Erwerbung“, so der Titel seiner historischen Skizzen.

Zukunftsbilder gesellschaftlichen Zusammenlebens bietet Gerhard Branstner in „Der negative Erfolg. Fantastische Geschichten“.

Überraschende Post bekommt ein gewisser Ernst Kapulat in „Die Waldschenke oder Erbe und Erben des Harry Witt und andere Ausrutscher“ von Rudi Czerwenka – und das ausgerechnet an einem Freitag, einem 13.

Um geradezu unausweichliche Schicksalsfragen geht es in „Die Zelle. Die Leidenschaften der Familie B.“ von Wolfgang Licht.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Heute geht es darum, wie man sich in verdammt schwierigen Zeiten dennoch durchsetzen kann und lernt, mit bestimmten Dingen umzugehen, für die man nichts kann. Zugleich bietet das heute vorgestellte Buch ungewöhnliche Sichten auf eine schlimme Vergangenheit, die nicht aufhören wird, uns auch in Zukunft weiter zu beschäftigen – damit es nicht wieder so kommt:

Erstmals 2005 veröffentlichte Siegfried Maaß im Projekte-Verlag Halle „Adolfchen und der „doofe“ Arm“: Man schreibt das Jahr 1935. In einer mitteldeutschen Kleinstadt kündigt sich die Geburt eines Kindes an, von dem erwartet wird, dass es ein Junge ist. Die Hebamme hat ein schwieriges Amt, denn sie soll die Geburt des Kindes verzögern, bis Mitternacht vorüber und der 20. April angebrochen ist. Dann kann der neue Staatsbürger den Namen des „Führers“ erhalten, zu dessen Ehrentag die Straßen mit Hakenkreuzfahnen beflaggt sind. Jahre später stattet der Großvater den Jungen mit einem Haarschnitt aus, der dem des „großen“ Adolf sehr ähnlich ist. Doch zum Leidwesen seiner Eltern ist der Junge nur ein „Adolfchen“, der in seiner Entwicklung hinter anderen zurück bleibt. Eine Behinderung gestattet ihm nicht, den rechten Arm zum geforderten Gruß zu erheben, so dass ihm überall im täglichen Leben Schwierigkeiten entstehen und er sowohl Spott wie auch Verachtung ausgesetzt ist. Wie es ihm gelingt, sich im weiteren Leben zu behaupten und sich von der Last, die ihm sein Name aufbürdet, zu befreien, wird in teilweise satirisch zugespitzten Situationen eindrucksvoll gestaltet. Hier der Beginn des Kapitels über den Beginn von Adolfchens Schulzeit:

„Der Schüler

Mein erster Lehrer war ein bereits ergrauter Mann, der ebenso wie mein Großvater im Weltkrieg gekämpft hatte, aber im Gegensatz zu diesem niemals von seinen „ruhmreichen“ Taten sprach und der seine Orden bei keinem noch so geeigneten Anlass an sein Jackett heftete. Als müsse er sich ihrer schämen. Außerdem soll er die längste Zeit seines Soldatendaseins in der Schreibstube zugebracht und darum kaum einmal dem Feind gegenübergestanden haben wie mein Großvater.

Von dieser Vergangenheit meines ersten Lehrers erfuhr ich von meinem Vater, der in den Jahren nach dem vorigen Krieg ebenfalls dessen Schüler gewesen war und der es nun als seine Pflicht ansah, mich auf Herrn Heinemann vorzubereiten. Er hielt ihn für zu lasch und gutmütig und damit für seinen Beruf ungeeignet und den gegenwärtigen Anforderungen nicht gewachsen. Warum der Mann nicht längst Pensionär sei, fragte er, ohne Erwartung einer zuverlässigen Auskunft, nachdem er erfahren hatte, dass nun auch ich noch „Herrn Heinemanns pädagogische Leistungen genießen“ sollte, wie er voller Spott meinte. Selbst die Tatsache, dass sein ehemaliger Lehrer inzwischen ebenfalls der NSDAP angehörte, schien seine Meinung nicht zu beeinflussen. Aber er konnte schließlich nicht verhindern, dass Herr Heinemann mein Lehrer wurde.

Das Abzeichen der NSDAP schien mein erster Lehrer ebenfalls unwillig zur Schau zu stellen. Wahrscheinlich trug er deshalb nur selten das Jackett, an dessen Revers es befestigt war. Meistens erschien er in einem Westover, der, wie ich heute weiß, ein Patchworkartikel war, offenbar von seiner Frau aus Wollresten gestrickt, zwischen denen sie Stoffteile verarbeitet hatte, die in langen Streifen Vorder- sowie Hinterseite zierten. Darin wirkte Herr Heinemann tatsächlich wie ein gemütlicher Opa, der viel lieber zu Hause in seinem Sessel gesessen und die Zeitung gelesen hätte, als sich mit dreißig zum Teil aufsässigen Jungen den Tag zu verderben. Nur während der Einschulungsfeier und späteren feierlichen Veranstaltungen sah ich ihn in seinem bereits etwas abgewetzten und glänzenden Jackett, mit den Lederherzen an den Ellenbogen, von dem mein Vater meinte, dass er es bereits aus seiner eigenen Schulzeit kenne. Als habe sich seitdem überhaupt nichts verändert … Er behauptete sogar, der grauhaarige Lehrer würde kein richtiges Hemd, sondern nur einen Einsatz tragen, den er „Chemisett“ nannte. Herr Heinemann sei eben in seiner Lebensführung stehen geblieben, habe nicht mit der Zeit Schritt gehalten und wahrscheinlich wäre auch sein Unterricht genau noch wie zu seiner eigenen, also meines Vaters Zeit.

Lediglich das Parteiabzeichen am Revers des Lehrers schien meinen Vater etwas zu versöhnen und zu der Ansicht zu führen, dass der alte Mann vielleicht ehrlich bemüht sei, die neue Zeit verstehen zu wollen.

Zu den aufsässigen Schülern gehörte ich nicht. Aber ich kann auch nicht behaupten, sehr aufmerksam gewesen zu sein. Was der Lehrer uns verkündete und auf die große Tafel schreiben ließ, war mir längst bekannt, sodass ich meistens zum Fenster hinaussah, obwohl ich außer Häuserdächern und dem kleinen Ausschnitt Himmel nichts erkennen konnte. In diesen ersten Tagen in dem mit dunkelgrünem Paneel ausgestatteten Klassenraum, in dem sich außer unseren Schulbänken nur noch ein alter Schrank sowie das Katheder mit Stuhl und Tisch für Herrn Heinemann befanden und darüber das Bild unsers Führers, war ich froh, wenn ich über den roten Dächern eine Wolke entdecken konnte. Mir ihr schwebte ich dann in Gedanken über allem und betrachtete die Welt unter mir, sah meinen Großvater im Rollstuhl und meinen Vater an seinem Schreibtisch im Büro. Sie waren merkwürdig klein, wie Ameisen. Nur wusste ich, dass diese winzigen Wesen sehr emsig und fleißig waren, während mein Großvater sich nur von meiner Großmutter umherfahren ließ und mein Vater sein Kinn in die Hände stützte. Ich glaube, jede Ameise hätte sich dieser Faulheit wegen geschämt. Vielleicht wäre sie sogar von ihrem Stamm vertrieben worden. Jene kleinen fleißigen Wesen konnte ich aber von meiner Wolke aus leider nicht erkennen. Dafür umso mehr Vögel. Ich musste sogar achtgeben, nicht mit ihnen zusammenzustoßen. Ich konnte mir gut vorstellen, dass die Spitze des Vogelkeils meine Wolke wie eine Blase aufratschen und ich dann unsanft zu Boden fallen würde. Dann blieb womöglich nur ein dunkler und nasser Fleck von mir übrig …“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:

Erstmals 1998 erschien im Westkreuz-Verlag Berlin/Bonn „Jenseits der Oder. Streusandbüchse und eine vorteilhafte Erwerbung. Märkische Miniaturen“ von Hans Bentzien: Hans Bentzien hat sich mit seinen historischen Skizzen absichtlich den Gebieten jenseits der Oder zugewendet, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu Polen gehören, die durch die Herrschaft der Nationalsozialisten und den angezettelten Zweiten Weltkrieg verspielt worden sind. Jenseits der Oder spielte sich aber bis zu dem Zeitpunkt deutsche Geschichte ab. Auch dort lebten bedeutende Geistesgrößen und entwickelte sich in diesen damaligen Landesteilen ein bedeutender Kern des deutschen Widerstands gegen Hitler. Bis zur Wende in Osteuropa und in der damaligen DDR war das Thema der deutschen Geschichte in der Neumark, in Ostpreußen und Schlesien gewissermaßen ein Tabu. In den Schulen wurde die Geschichte vor 1945 totgeschwiegen oder einfach gefälscht. In Polen wurde mit der Diskussion über die Deutschen vor 1945 meist Revanchismus postuliert. Den Heranwachsenden in der DDR wurde suggeriert, dass die von Polen nach dem Krieg besiedelten Gebiete immer polnisch gewesen seien, und nach 1945 der Rechtsanspruch Polens auf diese Regionen erfüllt worden sei. Kein Wort erfuhr man über die Vertreibung und Umsiedlung aus der Ukraine in die entvölkerten Gebiete östlich der Oder. Das Interesse an der Geschichte jenseits der Oder erwies sich als ungebrochen, als mit der Wende 1989 die Fakten der Geschichte offengelegt wurden. Auch die polnische Bevölkerung zeigte danach ein wachsendes Interesse an der deutschen Vorgeschichte, sie wollte nicht auf geschichtslosem Boden leben. Und hier zwei Beispiele für diese aufschlussreichen Märkischen Miniaturen:

Streusandbüchse

Sicher sind wir Brandenburger die Nachwohner der Bevölkerung in der „Streusandbüchse des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation“, wie unser Land schon zu Vorzeiten genannt wurde. Doch kulturhistorisch uninteressant ist wegen des Sandbodens unser Land noch lange nicht. Die frühgeschichtlichen Fundstellen beweisen eine hochstehende, ästhetisch anspruchsvolle Architektur, in deren Mauern geistiges und künstlerisches Leben geherrscht hat wie anderswo auch.

Gewiss, die germanischen Semnonen gingen in der Völkerwanderung nach Westen (500). Ihnen folgten die slawischen Obotriten, Lutizen, Heveller und Sorben in unser Gebiet nach. Ihre Anwesenheit dauerte mehrere Hundert Jahre. Im 10.Jahrhundert hatten sich dann die feudalen Machtverhältnisse in Europa durchgesetzt. Karl der Große (um 800) begann mit der Ausdehnung seines Machtbereichs, mit der sogenannten feudalen Ostexpansion durch die Feldzüge gegen die Wilzen (789). Es folgte Heinrich I., der die Hevellerfestung Brennabor eroberte (928/ 929), Otto I. (936 bis 973) schickte seinen Markgrafen Gero mit dem Auftrag, das Land zwischen Elbe und Oder zu unterwerfen, das seit dem 12. Jahrhundert die Nordmark des Reiches bildete. Bereits Mitte des 10.Jahrhunderts waren die beiden Bistümer Brandenburg und Havelberg gegründet worden. Aber bald danach (983) sah das Land die alten Besitzer, die Slawen, wieder. Sie hatten es zurückerobert und die Zeichen des christlichen Gottes zerstört. Nun war den Deutschen der Weg nach Osten für 150 Jahre versperrt.

Dann begannen unter Albrecht dem Bären die Kämpfe erneut, die Prignitz wurde erobert, dann die westliche Mittelmark, und nun nannte sich Albrecht „Markgraf von Brandenburg“. Unter seinen Nachfolgern ging die Unterwerfung der östlich gelegenen Landstriche weiter, um 1231 war auch die Lehenshoheit über Pommern erreicht, die Kaiser Friedrich II. den Askaniern übertrug. Sie beherrschten ein großes Gebiet, von Wolmirstedt und Salzwedel bis Danzig und Stolp, von Pasewalk im Norden bis Bautzen und Görlitz im Süden. Die Askanier und ihre Nachfolger, die Wettiner und Schauenburger, holten eifrig Siedler ins Land.

Im 12. und 13. Jahrhundert wurden in der Mark rund 100 Städte gegründet, die meisten der heute bekannten Dörfer stammen ebenfalls aus dieser Zeit. Als man in der Berliner Nikolaikirche grub, fand man die Bestätigung: Bereits im 12. Jahrhundert gab es hier Niederlassungen. An der heutigen Mühlendammbrücke kreuzten sich zwei alte Handelsstraßen. Das gab den Ausschlag für die zentrale Lage Berlins, das wenig später Stadtrecht erhielt und Mittelpunkt des märkischen Städtebündnisses wurde.

Die Klöster und großen Kirchen ergänzten das Handelsleben der Städte durch rege religiöse, aber nicht nur dem Himmel, sondern auch der irdischen Wohlfahrt dienende Aktivitäten. Neben der Backsteingotik bedeutender Bauten finden wir aus dieser Zeit noch die vielen Feldsteinkirchen in den Dörfern, die uns heute so manches Erhaltungsproblem bereiten. Obwohl sie oftmals keine Gemeinde mehr haben, sind sie doch unverzichtbare Zeugen der alten Zeiten.

Diese waren alles andere als geordnet, sondern müssen vielmehr chaotisch genannt werden, jedenfalls solange die Wittelsbacher und die Luxemburger die Mark nur als Geldquelle ansahen. Als die Hohenzollern in die Mark gerufen wurden (1411), waren alle Burgen – außer Spandau – verpfändet. Die „harte Hand“ Friedrichs I. und seiner Nachfolger befriedeten das Land und riefen die Raubritter zur Ordnung. So ließ Kurfürst Johann Cicero die Köpfe einiger Raubritter auf die eisernen Stangen des Köpenicker Schlosses aufspießen, und ein bewaffneter Fängertrupp durchstreifte das Land. In einem Jahr werden von ihm 70 Raubritter an die Straßenbäume zur Warnung gehängt als „Schelme, Mörder, und Räuber“.

Allerdings hatten sie es damals leichter diese zu erkennen als wir deren Nachfolger; die Vereinigungskriminellen und Abzocker, heute.

Kidnapping

Der Anschluss Preußens – sprich Ostpreußens – an Brandenburg verlief nicht ohne Widerstände. Unter Führung des Schöppenmeisters Hyronimus Roth aus Königsberg verlangte der Adel allerhand Vorrechte, und außerdem hatte er mit Polen wegen eines Anschlusses an das Königreich verhandelt, was der Große Kurfürst als Hochverrat ansah. So ließ er Meister Roth verhaften und verhören und schickte ihn lebenslang auf die Feste Peitz. Der Mitverschworene Oberst von Kalkstein entwich nach Polen und hielt sich in Warschau auf. Dort verhandelte er weiter über einen Anschluss an die polnische Krone.

Friedrich Wilhelm beschloss, ihn zu entführen. Sein Gesandter von Brandt nahm den Rittmeister von Barnstorf und drei handfeste Reiter in sein Haus und wartete auf einen Besuch von Kalksteins. Es dauerte viele Tage, bis er endlich zu einem Gespräch kam. Er teilte mit, dass der Fall auf dem Reichstag behandelt werden sollte, worauf Brandt nach einem Diener läutete, um einen Schluck darauf zu trinken. Herein aber stürzten die maskierten Häscher und verschnürten Kalkstein wie eine Mumie. In der Dämmerung ging es im Galopp davon.

Im Tagebuch des Rittmeisters heißt es: „Den ganzen Tag weitergejagt, am Abend den Kalkstein mit Wein und Fleisch gefüttert durch eine Klappe vorm Gesicht, dass uns das kostbare Paket nicht abscheide. Sind dann auch glücklich über Nebenwege, wo uns niemand vermutete, zuletzt nur noch des Nachts gefahren und hielten uns tagsüber im dichten Gebüsch verborgen, bis wir in der vierten Nacht die preußische Grenze überschritten. Erst jetzt haben wir den Verschnürten so weit ausgepackt, dass er seine Notdurft verrichten gekonnt, und waren von Herzen froh, als wir ihn endlich zu Memel abgeliefert. Bin dorten aber nicht alt geworden, sinte mir ein Wink zukommen, und ich zu Schiffe von Pillau nach Stettin gefahren, wo auch der Brandt sich eingefunden, und pflegten wir unsern Leib derzeit bei den Schweden, wo wir ob unseres Abenteuers großen Ruhm genießen“.

Doch die Aktion hatte ein wenig rühmliches Nachspiel. Kalkstein wurde gefoltert und „wegen Eidbruchs, Hochverrats und Majestätsbeleidigung“ zum Tode und zum Verlust seiner Güter verurteilt und durch das Schwert hingerichtet. Die Stände muckten auf: „In Kalkstein sind die Stände gleichsam torquiert (gefoltert) worden. Solche Schmach und Unehre ist den Ständen, solange sie christliche Preußen heißen, nicht widerfahren. Dieser Flecken kann von keiner menschlichen Hand ausgetilgt werden“.

Doch Friedrich Wilhelm kümmerte sich nicht um moralische Vorhaltungen. Roth und seine Gesellen hatten gegen ihn intrigiert und versucht, mit Polen und Schweden gegen Brandenburg vorzugehen. Sie wollten mit deren Hilfe eine ostpreußische Freiheit aufbauen. Ein „Vereinigtes Bedenken“ stellte die Plattform dazu dar und lief auf Autonomie hinaus. Bei Streitigkeiten sollte Polen schlichten. Das brachte das Fass zum überlaufen, der Große Kurfürst konnte Extrawürste nicht gewähren und setzte seine „Regierungsverfassung“ mit aller Härte durch.

Ein Verhalten, das auch an heutige Praktiken erinnert.

Erstmals 1985 veröffentlichte Gerhard Branstner im Mitteldeutschen Verlag Halle „Der negative Erfolg. Fantastische Geschichten“: Nicht wenigen Lesern ist die von Gerhard Branstner wiederholt formulierte originelle und sympathische Idee bekannt, dass sich die Freiheit in einer zukünftigen klassenlosen Gesellschaft immer mehr im spielerischen Umgang des Menschen mit sich und seiner Umwelt realisieren wird. Heutige Kunst, so meint Branstner, habe bereits die Möglichkeit, dafür nötige Haltungen vorwegnehmend zu erkunden und vorzuspielen. So bietet er in fünf Geschichten Zukunftsbilder gesellschaftlichen Zusammenlebens, die vom Spaß an der Dialektik von vorhersehbarem Wesen und von unvorhersehbarer Erscheinung leben. All den Aufregungen und Turbulenzen, die der Existenz der „Bescheidenheit“ erwachsen oder in einem Institut für Gedächtnisforschung entstehen, ist der seltene Vorzug gemeinsam, durch und durch heiter erzählt zu sein. Hier eine seiner spannenden Geschichten, die aus der Zukunft über die Vergangenheit erzählt – und zwar in voller Länge:

Wer hat denn jetzt den Einbrecher erschossen?

Wenn Sie mich fragen, was wir seinerzeit, etwa um das Jahr zweitausend herum, so alles getrieben haben, bin ich einigermaßen um eine Antwort verlegen. Immerhin ist das ein halbes Menschenalter her, und ich war damals schon Witwer. Witwer aber gibt es zu allen Zeiten, und sie werden wohl auch zu allen Zeiten, wenn sie keine Kinder haben, dahin gehen, wo man Onkel zu ihnen sagt. Es war ein Tag wie jeder andere, und ich befand mich auf dem Wege, einen meiner gewöhnlichen Besuche bei meinen Verwandten zu machen. Ich hatte jedoch kaum die Wohnung betreten und war eben dabei, Hut und Mantel abzulegen, da rief meine Nichte, sie war damals noch ein siebzehnjähriges Mädel: „Jetzt kommt auch noch der Onkel!“ Dieser Empfang genierte mich ein wenig, und ich war schon geneigt, wieder meiner Wege zu gehen. Doch Bibbi. so wurde meine Nichte genannt, zog mich ins Wohnzimmer.

„Du hast uns nämlich noch gefehlt“, erklärte sie mir. „Jetzt haben wir endlich mal alle beisammen.“

Gewiss werden Sie heute nichts Besonderes darin sehen, einmal alle beisammenzuhaben. Damals, um das Jahr zweitausend, war das jedoch ein seltenes Ereignis. Vor mir war nicht nur Bibbi, die öfter mal zu Hause vorbeisah, sondern auch Markus, der Jüngste, und sein älterer Bruder Baltus mit seiner Frau eingetroffen.

„Das hatten wir noch nie“, sagte meine Schwester. „Sieben auf einen Streich. Das müssen wir feiern!“

Mein Schwager nickte nur. Er sagte selten etwas, denn damals waren die Frauen noch um ihre Gleichberechtigung besorgt und glaubten, es wäre besser, wenn die Männer überhaupt nichts zu sagen hätten.

Mein Schwager also nickte nur. Markus hingegen rief: „Fein, wir gehen alle miteinander zum Fußball!“

Das war nun nicht gerade die passende Idee für eine Familienfeier. Weshalb Bibbi die Nase rümpfte und den gemeinsamen Besuch einer Modenschau vorschlug.

„Was gibt es da schon zu sehen?“, raunzte Markus. „Oben frei und unten nichts. Was übrig bleibt, ist ein breiter Gürtel. Ich gehe zum Fußball!“

Baltus brachte jetzt einen Besuch im Galaktischen Kabinett zum Vorschlag, wo ein Teilnehmer der letzten Kosmosexpedition einen Lichtbildervortrag hielt. Baltusens Frau hingegen interessierte sich für die Galavorstellung eines Roboters, der kybernetische Zauberkunststücke zum besten gab. In dieser Weise ging es noch eine Weile fort, und am Ende hatten wir mehr Vorschläge als Familienmitglieder. Eine Einigung schien unmöglich zu sein, und Sie können sich denken, dass schließlich jeder seiner Wege ging: Markus auf den Sportplatz, Bibbi zur Modenschau. Baltus ins Galaktische Kabinett, seine Frau zum zaubernden Roboter meine Schwester und ihr Mann aber machten einen Besuch bei ihren Nachbarsleuten. Und ich selbst ging wieder nach Hause. Wenn man Witwer ist und sich darauf gefreut hat. einige gemütliche Stunden bei seinen nächsten Verwandten zu verbringen, sind jedoch die eigenen vier Wände der ungeeignetste Ort, das Gefühl der Einsamkeit zu vertreiben, weshalb ich mich nach einiger Zeit wieder zur Wohnung meiner Schwester auf den Weg machte, um dort auf die Rückkehr der einzelnen Familienangehörigen zu warten. Diesem Umstand habe ich es zu verdanken, Ihnen von einem Vorfall berichten zu können, der wohl nur um das Jahr zweitausend herum möglich war.

Ich hatte, wie bei meinem ersten Besuch an diesem Tage, nichts ahnend die Haustür geöffnet und war eben wieder im Begriff, Hut und Mantel abzulegen, als ich einen Lichtschimmer bemerkte, der aus dem Wohnzimmer fiel. Da ich alle Familienangehörigen aus dem Hause wusste, kam mir das verdächtig vor, und ich schlich mich den Korridor entlang zur Zimmertür. Dort musste ich etwas hören, das mir den Atem verschlug. Leise Stimmen tuschelten von Schmuckstücken, die nicht zu finden seien.

„Wir müssen im Schlafzimmer suchen“, sagte die eine Stimme. „Wenn der Schmuck nicht hier ist, kann er nur im Schlafzimmer sein.“

„Er ist hier“, sagte die andere Stimme. „Bestimmt steckt er in dem Fach des Vertikos, das wir mit unseren Schlüsseln nicht aufgekriegt haben.“

„Dann müssen wir es aufbrechen“, meinte der erste der Einbrecher. Denn dass es sich um Einbrecher handelte, war mir jetzt klar. Und tatsächlich befand sich der Schmuck meiner Schwester in dem bewussten Fach des Vertikos.

Ich nahm mein bisschen Mut zusammen, stieß die Tür auf und rief: „Hände hoch!“ Die beiden im fahlen Licht des Wohnzimmers hockenden Gestalten hoben jedoch keineswegs die Hände, vielmehr starrten sie wie gebannt auf den Bildschirm des Fernsehgerätes, wo sich zwei Einbrecher an einem Vertiko zu schaffen machten. Ich hockte mich schweigend zwischen Baltus und seine Frau und verfolgte interessiert das Geschehen aus dem Schirm. Es war ein Krimi von altertümlicher Machart. Und wir konnten uns ausrechnen, dass er es nicht unter zwei Leichen machen würde. Und als es dem einen Einbrecher gelungen war, das bewusste Fach des Vertikos zu öffnen, musste nach den Spielregeln dieser Kunst der unverhoffte Zwischenfall eintreten. Plötzlich spürte ich heißen Atem in meinem Nacken. Ich fuhr erschrocken herum und stieß dabei den Stuhl um. Baltus und Frau schrien auf und stürzten zum Lichtschalter. Ehe sie ihn erreicht halten, ertönte jedoch ein fürchterlicher Knall, und das Licht flammte auf. In der Tür stand Bibbi mit schreckgeweiteten Augen.

„Was geht hier vor?“ fragte sie.

„Ein Krimi“, sagte Markus und stellte meinen Stuhl auf.

Ich sah Markus verblüfft an. Wie kam der Junge auf einmal ins Zimmer? Da erinnerte ich mich an den heißen Atem im Nacken und konnte mir jetzt die Erscheinung erklären. Markus war gleich nach mir in das Wohnzimmer gekommen und hatte sich, um uns nicht zu stören, hinter mich gestellt und mich mit seinem Atem gestreift.

Baltus und Frau saßen indessen wieder in ihren Sesseln und schauten auf den Bildschirm. Dort lag eine Leiche in ihrem Blute.

„Wer hat denn jetzt den Einbrecher erschossen?“, fragte Baltus seine Frau. Die wusste es jedoch nicht zu sagen. „Markus“, fragte sie, „hast du gesehen, wer den Einbrecher erschossen hat?“ Doch Markus wusste es auch nicht zu sagen und Bibbi auch nicht.

„Zum Teufel!“, rief Baltus. „Hat denn keiner gesehen, wer den Einbrecher erschossen hat?“

Ich wusste natürlich, dass es keiner gesehen haben konnte, denn der Schuss war ja in dem Augenblick gefallen, als ich meinen Stuhl umgeworfen hatte, Hai inBaltus und Frau zum Lichtschalter stürzten und Bibbi das Licht einschaltete. Und Markus hatte gerade den von mir umgeworfenen Stuhl auf die Zehen bekommen. In diesem Augenblick aber hatte nicht einer auf den Bildschirm geachtet. Ich hütete mich jedoch, eine Aufklärung zu geben, um nicht den Zorn aller auf mich zu lenken. Denn mit dem Stuhl hatte alles angefangen.

„Gewiss war ein Selbstschuss im Vertiko angebracht“, sagte ich. „Der Einbrecher hat ihn ausgelöst, als er das Fach aufbrach.“

„Das Blut kommt aber aus dem Rücken“, sagte Baltus. „Also kann es nicht das Vertiko gewesen sein.“

„Vielleicht hatte das Vertiko eine Ladehemmung“, gab ich zu bedenken, „und der Schuss ging erst los., als der Einbrecher ihm den Rücken kehrte.“

Baltus wollte auch gegen diese Version protestieren, da kamen meine Schwester und ihr Mann herein, setzten sich vor den Bildschirm und unterbanden weitere Diskussionen.

„Haltet gefälligst den Mund“, sagte meine Schwester. „Wir wollen den Krimi zu Ende sehen. Wenn es euch nicht passt, könnt ihr ja so lange rausgehen!“

Wir gingen jedoch nicht hinaus, sondern sahen uns den Krimi gemeinsam bis zum Ende an. Danach aber entspann sich eine seltsame Unterhaltung, denn jeder versuchte glaubhaft zu machen, dass er sich den Krimi eigentlich gar nicht hatte ansehen wollen. Nur war eben bei jedem etwas dazwischengekommen und so hatte es sich ganz zufällig ergeben, dass sich alle vor dem Bildschirm wiedertrafen. Am glaubwürdigsten war noch die Erklärung meiner Schwester. Wie sie behauptete, wollten die Nachbarsleute unbedingt einen Krimi sehen.

„Da haben wir uns dazugesetzt“, sagte meine Schwester.

„Dann habt wenigstens ihr gesehen, wer den Einbrecher erschossen hat!“, rief Baltus. „Wer war es?“

„Das weiß ich nicht“, entgegnete meine Schwester. „Als der eine Einbrecher meinte, der Schmuck müsse in dem Fach des Vertikos sein, dachte ich an meinen Schmuck. Den bewahre ich doch im gleichen Fach auf. Und da habe ich keine Ruhe mehr gehabt, und wir sind nach Hause gegangen. Der Schuss muss unterwegs gefallen sein, denn als wir hier ankamen, lag die Leiche schon vor dem Vertiko.“

Wir gaben es auf. Es war einfach nicht herauszukriegen, wer den Einbrecher erschossen hatte.

Mein Schwager, der bis jetzt noch kein Wort gesagt hatte, blickte auf die Uhr und meinte: „Da wir nun wieder beisammen sind, könnten wir vielleicht doch noch was Gemeinsames unternehmen. Wir haben noch Zeit. Wie wär‘s mit dem Theater?“

„Theater?“ Bibbi rümpfte die Nase. „Mit der Familie ins Theater! So was ist seit langem Mode. Wenn wir schon was Gemeinsames unternehmen, muss es was Besonderes sein.“

„Sie spielen aber ein neues Stück“, sagte mein Schwager.

„Das war vor dreißig Jahren vielleicht was Besonderes“, entgegnete Baltus. „Heutzutage kommen doch dauernd neue Stücke auf die Bühne.“

Mein Schwager gab es noch immer nicht auf. „Es soll aber ein ganz miserables Stück sein.“

„Wirklich?“, riefen alle wie aus einem Munde.

„Da müssen wir unbedingt hin! Miserable Stücke sind eine große Rarität geworden, womöglich ist es das letzte von der Sorte.“ Mein Schwager atmete auf. Endlich hatte er das Spiel gewonnen.

„Hoffentlich“, sagte meine Schwester, „haben sie das Stück nicht schon abgesetzt, wenn es so miserabel ist.“

„Der Autor selber“, erklärte mein Schwager, „hat gleich nach der Premiere gefordert, das Stück abzusetzen. Die Zuschauer haben nämlich fürchterlich gelacht. Der Autor aber hatte geglaubt, etwas ganz und gar Ernstes geschrieben zu haben.“

„Und weshalb hat man die Forderung des Autors nicht erfüllt?“, wollte Bibbi wissen. „Weil das Publikum es nicht zulässt“, sagte mein Schwager. „Die Leute behaupten, so was Komisches hätten sie lange nicht mehr erlebt. Sie sind ganz verrückt auf das Stück und lachen sich krank. Am meisten aber lachte der Regisseur. Er musste deshalb sogar den Arzt aufsuchen. Er hat eine Zwerchfellentzündung, und es soll sehr ernst um ihn stehen.“

„Auf ins Theater!“, riefen alle. „Hoffentlich kriegen wir noch Plätze.“

Sehen Sie, das ist die Geschichte, wie sie nur um das Jahr zweitausend herum geschehen konnte. Diese Zeit, das kann ich heute mit sicherem Abstand sagen, war die Wasserscheide des ästhetischen Geschmacks. Vorher und nachher wäre es unmöglich gewesen, einen Krimi ernst zu nehmen und sich zugleich über ein schlechthin ernstes Stück krankzulachen. Und wann anders, frage ich Sie, wäre es möglich gewesen, dass die Leute ins Theater strömen, um das vielleicht letzte miserable Stück noch mit eigenen Augen zu sehen?

Ich bitte Sie deshalb, mich nicht weiter zu fragen, was wir damals, etwa um das Jahr zweitausend herum, so alles getrieben haben. Und nur der Vollständigkeit halber füge ich hinzu, dass mein Schwager uns angeführt hatte, denn das Stück war weder miserabel noch zum Lachen. Hingegen fanden wir das Vertiko, als wir zurückkamen, tatsächlich ausgeraubt. Ein erschossener Einbrecher lag aber nicht davor.“

Erstmals 2005 veröffentlichte der BS-Verlag Rostock „Die Waldschenke oder Erbe und Erben des Harry Witt und andere Ausrutscher“ von Rudi Czerwenka: Ernst Kapulat wuchs allein mit seiner Mutter auf. Sie nahm das Geheimnis über den Lorbass, seinen Vater, mit ins Grab. Eines Tages jedoch erhielt er einen Brief. Als Erbe seines verstorbenen Vaters Harry Witt wurde er gemeinsam mit seiner ihm bisher unbekannten Schwester Besitzer der romantischen Waldschenke an der Ostsee. Als der kaufwillige Graf nur wenig Geld bot, überließ die Schwester Ernst das Erbe. Der junge Mann, der in den Nachwendejahren seine Lehre als Kfz-Mechaniker nicht beenden durfte und nun gemeinsam mit seinem Freund eine Mitfahrgemeinschaft betrieb, wurde Gastwirt. Er fand in dem fernen Ort Liebe, Freunde, und eine weitere Schwester. Und hier der Anfang des Buches und eine überraschende Post:

„Die Waldschenke

Abergläubisch war Ernst Kapulat nicht. Er stutzte nur, als er an jenem Freitag, der ausgerechnet noch der 13. war, zwischen der normalen Geschäftspost und den üblichen Werbeprospekten auch einen an ihn persönlich adressierten Brief aus dem überquellenden Kasten fischte. Der Absender, eine Laborfirma mit banalem, aber kompliziertem Namen, sagte ihm nichts. Private Korrespondenzpartner hatte es kaum. Die Leute, die er kannte, saßen alle irgendwo in der Nähe, keineswegs in Thüringen, und sie griffen zum Telefon, wenn es etwas zu bereden gab. Er drehte den Brief hin und her und versenkte ihn erst mal in der Jackentasche. Wer weiß, wer ihm da irgendwelchen unnützen Kram andrehen wollte. Dabei ahnte er nicht, welche Überraschung ihm bevorstand.

Thüringen lag allerdings gar nicht so weit weg von der Stadt an der mittleren Saale, wo er geboren, wo er aufgewachsen war, in der er lebte. Hier war seine Mutter einst als ostpreußisches Waisenkind gelandet, hatte sich durch die schlimme Nachkriegszeit geschlängelt und war schließlich zur Abteilungsleiterin einer Großwäscherei aufgestiegen. Sie war stolz auf sich, auf ihr Kollektiv und auf ihre Orden, die sie während der Demonstrationen an den staatlichen Feiertagen am Rockaufschlag trug. Ihre Karriere hatte auch dann nicht gelitten, als sie vorübergehend pausieren musste, weil sie ein Söhnchen in die Welt setzte. Seit diesem Tag war sie wenigstens nicht mehr so ganz allein. Die Zeiten waren ernst, das Leben war ernst. Und so nannte sie ihn ungeachtet anderer Vorschläge aus dem Kreis der Kolleginnen Ernst.

Ernst Kapulat gedieh entsprechend der staatlichen Planvorgaben und den dafür installierten Erziehungseinrichtungen: Kinderkrippe und Kindergarten, Oberschule und Hort. Nach dem Abitur begann er zu denken und selbst zu entscheiden. Studieren wollte er nicht, er hatte die Nase voll vom ewigen Bänkedrücken. Er interessierte sich für Autos, wenn diese Vorliebe auch dazumal auf Typen wie Trabant, Wartburg, Shiguli und Polski Fiat beschränkt war.

Schon vor dieser Zeit war nebenbei ein anderes Interesse in ihm erwacht. Sonderbar, fast alle seiner Mitschüler hatten Väter. Nur wenige mussten auf deren stete Anwesenheit verzichten, kamen jedoch in Genuss monatlicher Erziehungsbeihilfen. Er dagegen hatte niemanden. Wenn er seine Mutter wegen dieser biologischen Besonderheit ansprach, winkte sie ab und besann sich auf ihre ostpreußische Abstammung: „Dat Arschloch! Disser Lorbass!“ Dabei blieb es, bis er künftige Nachfragen in dieser Richtung unterließ.

Und dann war es zu spät. Mariechen Kapulat schloss für immer die Augen. Das Sterbegeld wurde bereits in der neuen Währung ausgezahlt. Den Abstieg in die „blühenden Landschaften“ brauchte sie nicht mehr mitzuerleben. Ernst sichtete den kärglichen Nachlass. Alles, Urkunden und andere Dokumente, Fotos und Orden, passte in einen einzigen Karton. Ansonsten lebte er weiter wie bisher, in der gleichen Wohnung, mit dem gleichen Mobiliar.

Als sein Schulfreund Fred Lange, gleichfalls Autofanatiker, nach einer Lehrstelle Ausschau hielt, schloss er sich diesem an. Die Zeiten waren noch günstig. Westeuropäische, überseeische und fernöstliche Wagen überschwemmten den neuen Absatzmarkt. Die meisten davon hatten zwar schon etliche Jahre auf ihren Blechbuckeln; doch gerade davon profitierten die Werkstätten. Im ersten Lehrjahr lief alles gut für die beiden Stifte bzw. Azubis, wie man sie jetzt titulierte. Dann gab ihr Chef die Werkstatt auf und verlegte sich auf den noch lukrativeren Autohandel. Fred war verpflichtet, die antiken Rostlauben irgendwelchen Leuten aufzuschwatzen und fühlte sich dabei recht unwohl. Das Ende der Kfz-Laufbahn nahte, als die staatlichen Fördermittel lockten. Sein Altautohändler wurde zum Besitzer eines modernen Autosalons. Für die beiden jungen Beinahe-Facharbeiter sah er keine Verwendung mehr und kündigte ihnen.

Aber Kumpel Fred hatte die Regeln der neuen Zeit schneller begriffen als sein Freund. Die beiden gründeten eine eigene Firma, eine Mitfahragentur. Sie warben Leute, die täglich die gleichen langen Anfahrtsstrecken zur Arbeitsstelle bewältigen mussten, erklärten ihnen die Einsparungen im Fall gemeinsamer Fahrzeugnutzungen, führten die Pendler zusammen, brauchten selbst nicht mehr unter schmierigen Karossen herumzukriechen und verdienten nun auf saubere Weise ihr Geld.

Ernst wurde nun mit Herr Kapulat angeredet und fühlte sich aufgewertet. Wenn er nach Hause kam, war er keineswegs mehr so ausgelaugt wie zu seinen Lehrzeiten. Manchmal war er nur ein wenig neidisch auf den Kompagnon, wie der z. B. mit den Mädchen schäkerte, die bei der Agentur vorsprachen. Er bemühte sich, dem Freund nachzueifern.

Da war jene Blondine, die er erst in die Eisdiele, dann in die „Fledermaus“ gelockt hatte, die sich vor Begeisterung während der Aufführung nicht nur auf die eigenen Schenkel klatschte. Sie war derart aufgeheizt, dass er die Chance witterte, sie anschließend zu sich nach Hause einzuladen. Doch dort geschah etwas Unerwartetes. Die Dame erstarrte geradezu angesichts des Miefs in der tristen Zweiraumwohnung. Jeglicher Appetit auf weitere Annäherung schwand. Nahezu ängstlich ringsum spähend, trank sie ihr Likörchen aus und verschwand. Er geleitete sie noch bis zur Haustür, aber sie verweigerte jegliches Wiedersehen.

Das sollte ihm kein weiteres Mal passieren. Nachgrübelnd hocke er im mütterlichen Sessel, übte Selbstkritik und entschloss sich zu einem Neuanfang. Wohnungen waren keine Mangelwaren mehr. Viele Saalestädter zogen, den Zugvögeln gleich, Richtung Westen, zu den dort angebotenen Arbeitsplätzen. Ernst mietete sich eine helle, relativ große, frisch renovierte Einzimmerwohnung. Damit jedoch waren seine Initiativen erschöpft. Einen Teil des Mobiliars schleppte er mit, den Rest entsorgte er trotz schlechten Gewissens.“

Erstmals 2009 erschien im Tauchaer Verlag „Die Zelle. Die Leidenschaften der Familie B.“ von Wolfgang Licht: Auch das Schicksal ist eine Zelle, aus der ein Ausbrechen nicht möglich ist! Das resümiert die Ehefrau des Gynäkologen Dr. B. nach einer Fülle eigentümlicher Ereignisse. Die beginnen damit, dass ihr Mann in der Zelle eines Gefängnisses landet – als Mörder aus Eifersucht. Von den Begehrlichkeiten hin- und hergerissen, entstehen beiderseits Liebesverhältnisse, die nicht ohne Folgen bleiben. Als schließlich die herangewachsenen, sich zunächst fremden Kinder zueinander finden, scheinen sich die verhängnisvollen Leidenschaften bitter zu rächen … Mit diesem Werk erzählt der Autor erneut ein Stück Alltagsgeschichte unserer Tage. Hier ein sehr spannender Ausschnitt mit einer unheimlichen Entdeckung:

„Da hörte er das Röhren eines Hirsches. Er schien ganz nahe. Morten blieb stehen, lauschte. Es war Brunstzeit. Aber er glaubte nicht, dass ihm Gefahr drohen könne. Er überlegte, ob er sich hier zum Schlafen niederlegen sollte. Aber das wiederholte Röhren des Hirsches machte ihn doch unruhig. Und da er noch die Hand vor den Augen sehen konnte, ging er weiter. Abgestorbene Äste bedeckten den Boden, das Holz knackte berstend unter seinen Tritten. Dieses Areal wollte er noch hinter sich bringen. Er war seit sieben Uhr unterwegs, war mindestens fünfunddreißig Kilometer gelaufen. Müdigkeit überfiel ihn und verdrängte seine Unruhe.

Da sah er plötzlich einen dunklen Gegenstand auf dem Waldboden liegen. Es gab hier Luftwurzeln, auf denen sich Polstermoos gebildet hatte. Dort lag der Gegenstand, den Morten anfangs für einen umgestürzten Baumstamm hielt. Doch schnell erkannte er seinen Irrtum. Es war ein Mensch, der dort lag.

Morten tat einen raschen Schritt auf den Liegenden zu, kniete sich neben ihn. Der Mensch lag auf der Seite, das Gesicht auf dem Moos. Morten tastete die Halsschlagader. Kein Puls. Vorsichtig drehte er den Körper, bis er das Gesicht sehen konnte. Es war verschmutzt, entstellt. Die Augen geweitet, ohne Reaktion. Morten hatte einen Toten vor sich. Die Feuchte auf dem Rücken war Blut, das aus einer breiten Wunde am Rücken geflossen und schon zu Klumpen geronnen war. Auch der Waldboden war mit Blut getränkt, was Morten eher ertastet als gesehen hatte. Man konnte nichts mehr tun. Der Mann war offensichtlich verblutet.

Morten hob einen verschmierten Gegenstand auf. der neben dem Toten lag. Es war eine große Kamera. Unweit des Toten befand sich ein Anstand. Morten hatte den Eindruck, der Mann sei von der Leiter des Anstandes herabgestürzt. Offenbar hatte der Mörder den Mann, als dieser die Leiter des Anstandes besteigen wollte, hinterrücks erstochen. Warum hatte er die Kamera nicht mitgenommen?

Nochmals blickt er auf den Toten. Schauer überrieselten ihn. Er musste weg hier, musste die Behörde verständigen. Aber wie sollte ihm das gelingen?

Es war inzwischen stockdunkel geworden. Weit entfernt hörte er wieder das Röhren des Hirsches. Da kam ihm das Messer in den Sinn. Sinnlos zurückzugehen, um es zu suchen. Wahrscheinlich war es die Tatwaffe. Er konnte den Fund nur melden. Am Tage würde man sie finden.

Er wusste nicht mehr, in welche Richtung er gehen sollte. Schlafen konnte er nun auch nicht mehr. Er drehte sich mehrmals um seine eigene Achse, glaubte schließlich die Richtung zu kennen, in die er gehen musste, um in den nächsten Ort zu gelangen.

Er trat wieder auf Zweige. Äste schlugen ihm ins Gesicht. Nach einer Weile musste er sich durch dorniges Gestrüpp zwängen. Wahrscheinlich Brombeeren, dachte er. Da fiel ihm ein, dass er keine Brille mehr hatte. Er musste sie, während er den Toten untersucht hatte, verloren haben.

Er blickte zum Himmel, als könne er dort Zeichen entdecken, die ihm den richtigen Weg weisen. Der Himmel blieb stumm. Schwarz hing er über dem schwarzen Wald.“

Wollen wir doch mal sehen, wie diese Geschichte weitergeht und ob sich bald klären wird, was da eigentlich passiert war und wer dort auf welche Weise auch immer vom Anstand gestürzt wurde. Gewissermaßen handelt es sich um einen Mord mit Anstand – oder zumindest um einem Mord am Anstand. Spannend verspricht die Lektüre so oder so zu werden. Gleiches gilt auch für die anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters, darunter auch die fantastischen Geschichten von Gerhard Branstner, der sich zeitlebens als eine Art Botschafter der Heiterkeit verstanden und auch ein Handbuch derselben verfasst hat.

Viel Vergnügen beim Lesen, einen schönen Übergang in den Mai und blieben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter sowie im Rahmen des Möglichen – heiter.

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