An diesem Montag, dem 9. Mai 2022, werden anlässlich des „Europatags“ die Empfehlungen der öffentlichen Konsultation im Rahmen der „Konferenz für die Zukunft Europas“ in Strasbourg feierlich verabschiedet. Diese Zukunftskonferenz war ein „Flaggschiff“ auf der Prioritätenliste von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Sie setzen damit die institutionalisierte „Verpackungskultur“ fort nach dem Leitspruch „Hauptsache, es sieht demokratisch aus“. Die „Zukunftskonferenz“ ist jedoch ein institutionelles Selbstgespräch der Brüsseler Behörden unter sich. Neun Politikfelder stehen zur Debatte: Klima und Umwelt; Gesundheit; Wirtschaft, Gerechtigkeit und Arbeitsplätze; Außenbeziehungen der EU; Werte und Rechte, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit; digitaler Wandel; europäische Demokratie; Migration sowie Bildung, Kultur, Jugend und Sport. 

In der Zukunftskonferenz sollten „die EU-Bürger“ ihre Meinung sagen, um die EU-Verwaltung bürgernäher zu gestalten. In Wirklichkeit jedoch ging es von Anfang an um den erneuten Versuch Brüssels, den Staatenblock in eine föderalistische bundesstaatliche Form nach deutschem Vorbild zu zwängen, in dem die Nationalstaaten zu föderalisierten nachgeordneten Einheiten einer zukünftigen EU-Kommandozentrale in Brüssel mutieren. Die deutsche Bundesregierung würde dann vollends zur nachgeordneten Behörde der EU-Kommission und der Bundestag noch mehr als schon bisher zum Durchwink-Parlament Brüsseler Vorlagen. Die Zukunftskonferenz ist ein angenehm verpackter Staatsstreich gegen die Mitgliedsstaaten, um ihnen weitere Zuständigkeiten zu entziehen. Für den erneuten Versuch einer „Verfassung für Europa“ wurde tief in die Trickkiste gegriffen: der „geheime Bürger“ wurde von „unabhängigen Experten“ beraten, Transparenz ist nicht gewollt, Abstimmungen gab es nicht.

Die Zukunftskonferenz wurde von dem Marktforschungsinstitut „Kantar“ organisiert, einem seit Jahren in Brüssel etablierten Dienstleister der EU-Kommission. Dort weiß man genau, wie man Umfrageergebnisse produziert, die vom Auftraggeber eingefordert werden. „Kantar“ gehört zum amerikanischen Heuschrecken-Investmentfond „Bain Capitals“. Der wiederum besorgte in der Vergangenheit u.a. in Frankreich einige industrielle Restrukturierungen, Entlassungen folgten und die regionale Arbeitslosigkeit stieg. Französische Abgeordnete sind sauer: erst streicht ein amerikanischer Heuschreckenfonds französische Arbeitsplätze, dann bekommt er auch noch Aufträge von der EU-Kommission. Kantar sollte 800 politisch neutrale Bürger in den 27 Mitgliedsstaaten aussuchen und für die Zukunftskonferenz fitmachen. Man erfuhr, Kantar habe sie anhand ihrer Funktelefonnummer gefunden. In einer Welt ohne Telefonbücher stellt sich die Frage, wie ernst der Datenschutz genommen wird, wenn Private-Equity-Unternehmen namens der EU-Kommission einfach so auf einem persönlichen Funktelefon anrufen können. Seit wann entscheidet die Funktelefonnummer über die europapolitische Kompetenz eines Menschen? Warum sind die EU-Beamten beruflich nicht in der Lage, eine solche Konferenz selbst zu organisieren, sondern bezahlen dafür externe Berater amerikanischer Private-Equity-Unternehmen?

Die Zukunftskonferenz führte zur Geburt des „geheimen Bürgers“. Die 800 teilnehmenden „politisch unerfahrenen Bürger“ sind offiziell unbekannt. Es gibt kein Teilnehmerverzeichnis der Zukunftskonferenz. Das mag zunächst nicht bekümmern, den sie stellen 0,0001 % der Bevölkerung der 27 Mitgliedsstaaten. Sie repräsentieren niemanden, bestenfalls sich selbst. Den Mitgliedern des EU-Parlaments wurde im Rahmen ihres parlamentarischen Frage- und Kontrollrechts die Information verweigert, mit wem sie es eigentlich zu tun haben. Wer die acht Plenarsitzungen im leeren EU-Parlament in Strasbourg verfolgte, musste in Echtzeit die Namen der Redner googeln. Dabei stellte sich heraus, dass auffallend viele „unerfahrene Bürger“ handfeste Erfahrungen als militante Verfechter des föderalistischen Europas aufweisen, derzeit mandatslose Politiker sind oder zu Vorfeldorganisationen gehören, die von den Institutionen der EU oder nationalen Regierungen bezahlt werden, um für Brüssel die Werbetrommel zu rühren. Dazu zählen Stephanie Hartung vom Verein „Pulse of Europe“ oder Kalojan Hoffmeister, Stipendiat der FDP-nahen Naumann-Stiftung an der Humboldt-Universität und Mitglied im Arbeitskreis „Institutionelle Reform“ der Jungen Europäischen Föderalisten. Hier sollten Journalisten und Abgeordnete von ihrem Informationsrecht Gebrauch machen, um die EU-Kommission zu zwingen, ein Teilnehmerverzeichnis zu erstellen, in dem die Namen der Teilnehmer samt ihren bisherigen beruflichen und außerberuflichen Tätigkeiten im Zusammenhang mit den Angelegenheiten der EU offengelegt werden. Das ist Transparenz, wenn es um die Zukunft der EU geht. Weigert sich Ursula von der Leyen weiterhin, dann muss die europäische Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly angerufen werden, um hier für Klarheit zu sorgen. Datenschutzrechtliche Belange können jedenfalls nicht angeführt werden, schließlich galten sie auch nicht für „Kantar“. Die Möglichkeit einer wirklich offenen Bürgerbefragung und einer eingehenden öffentlichen Debatte über die Zukunft der Europäischen Union wurde vertan. Der „Booster der europäischen Demokratie“ (Staatsministerin Anna Lührmann) verpuffte wie eine Fehlzündung. Auf der mehrsprachigen digitalen Plattform wurden lediglich 43734 Beiträge und 16274 Ideen verzeichnet. Diese Beiträge kann man übrigens nicht mehr im Original nachlesen, weil die kritischen Beiträge zur Migrationspolitik, zur Europolitik oder zum schlechten Pandemie-Management der EU-Behörden überhandnahmen. Dafür gibt es jetzt Synthesen, die von Kantar zusammengefügt wurden.

Die „unerfahrenen Bürger“ wurden von „unabhängigen Experten“ informiert. Die Experten-Liste liest sich wie das „Who is who“ langjähriger EU-Berufspolitiker, also keinesfalls unabhängig. Eine zusammenhängende Liste gibt es auch hier nicht. Wer sich dafür interessiert, muss sich auf der Webseite der Veranstaltung von einem Dokument zum anderen durchklicken. Dass ausgerechnet Elmar Brok, langjähriger CDU-Europaabgeordneter mit einer klar definierten föderalistischen Agenda als „unabhängiger Experte“ herumgereicht wird, ist umso unglaubwürdiger, als dass Herr Brok für die Europawahlen 2019 in Nordrhein-Westfalen nicht mehr aufgestellt wurde, nachdem bekannt wurde, dass er sich seine Besuchergruppen im EU-Parlament unrechtmäßig bezahlen ließ. Eine andere „unabhängige Expertin“ ist die frühere italienische EU-Kommissarin Federica Mogherini. Obwohl sie fünf Jahre lang für die Außenbeziehungen der EU zuständig war, fand die Sozialdemokratin keine berufliche Anschlussverwendung und wurde ohne wissenschaftliche Qualifikation auf den Posten der Präsidentin des Europakollegs Natolin/Warschau katapultiert. Eine andere „Expertin“ ist eine flämische Politikerin, die 2019 bei den EU-Wahlen auf der Liste des belgischen Open VLD von Guy Verhofstadt stand, nicht gewählt wurde und stattdessen mit einer Expertenstelle versorgt wurde. Keinesfalls unabhängig ist Sébastien Maillard, Direktor des „Jacques Delors Institut“, das eine ganz klar vorgeschriebene politische Haltung zugunsten der Brüsseler EU hat und dafür von der EU-Kommission bezahlt wird. Assya Kavrakova ist als Direktorin von der EU-Kommission ihrem Dienstherrn, abhängig. Der Platz reicht hier nicht aus, um die Namen aller „Jean Monnet Professoren“ aufzuzählen, also Hochschulprofessoren, die keinesfalls unabhängig sind, sondern vom EU-Haushalt eingekaufte Fußnoten-Krieger der EU-Kommission sind, um Auftragsforschung zugunsten der EU-Institutionen ausführen. Die Zukunftskonferenz ist ein sorgsam verpacktes Selbstgespräch der Brüsseler Institutionen. Wer soll dem Glauben schenken?

Die nationalen Parlamente wurden nicht entsprechend der Größe der Mitgliedsstaaten und des finanziellen Beitrags zum EU-Haushalt berücksichtigt. Jedes Parlament konnte zwei Abgeordnete entsenden, Deutschland genauso wie Malta. Für den Bundestag sprachen Gunther Krichbaum (CDU, ehemaliger Vorsitzender des Europaausschusses) und Axel Schäfer (SPD) an, beide langjährige Verfechter des jetzigen EU-Systems. Kann man ausgerechnet von ihnen jetzt ehrliche Reformvorschläge erwarten?

Am Europatag sollen die Empfehlungen offiziell angenommen werden. Dazu reichen auf einmal zwei Stunden. Es reden jeweils für 10 Minuten die Präsidentin des EU-Parlaments, Ursula von der Leyen und Emmanuel Macron. Der Rest der Zeit wird aufgefüllt mit Videoprojektionen und „Tanzen für Europa“. Viel zu sagen haben die offiziellen Vertreter also nicht. Auch das ist Teil der Strategie. Hauptsache, die „Verpackungskultur“ stimmt, damit die Bürger nicht merken, dass sie nur ausgenutzt werden und dass die nationalen Regierungen die bittere Pille ihrer sorgsam geplanten Entmachtung zugunsten des Brüsseler Superstaats schlucken.

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