Achtung, nicht verpassen: Weihnachten kommt doch immer so plötzlich, und dann fehlen einem die Geschenke. Deshalb möchten wir hier und heute darauf hinweisen, dass es nur noch sechs Monate Zeit sind, bis diese besondere Zeit beginnt. Noch aber ist immerhin Zeit genug, an die Geschenke zu denken und sie auch zu kaufen – zum Beispiel Bücher, gedruckte und E-Books. Darunter könnten sich auch jene fünf aktuellen digitalen Sonderangebote befinden, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 24.06. 22 – Freitag, 01.07. 22) zu haben sind.

In „Die Riesenwelle“ erzählen Hildegard und Siegfried Schumacher, wie aus einem Gegeneinander ein Miteinander wird.

In „Früh und spät“ lässt uns Jutta Schlott an Problemen teilhaben, die entstehen, wenn eine Familie zu DDR-Zeiten in eine Neubauwohnung in einer anderen Stadt umzog.

In dem Roman „Zeit der Schneeschmelze“ von Siegfried Maaß passiert etwas Ungeheuerliches – eine Lehrerin wird entführt. Aber wieso? Und steckt vielleicht etwas ganz anderes dahinter?

Im „Doppelzweier“ von Hans-Ulrich Lüdemann geht es unter anderem um Flusskrümmungen und andere Gefährlichkeiten im Leben.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Schon öfter wurde an dieser Stelle darüber nachgedacht, wie und aus welchen Gründen Kriege und Konflikte entstehen. Heute aber wird die umgekehrte Frage gestellt: Wie entstehen eigentlich Verständigung und Frieden? Was braucht es, um den Krieg endlich aus der Welt zu schaffen? Und – auch dieses Thema wird heute angesprochen – wie weiblich ist der Frieden? Können Frauen besser Frieden schaffen als Männer?

Erstmals 2018 erschien bei der Fe-Medienverlags GmbH Kißlegg „Sie machte Frieden. Maria Theresia und andere Erzählungen“ von Sigrid Grabner: Der Mut und die Kraft der hier vorgestellten Frauen aus vier Jahrhunderten erwachsen aus tiefer Not. Matilde von Tuszien bewegt den großen Papst Gregor VII. in den Tagen von Canossa, seinem Erzfeind zu vergeben. Caterina von Siena ermutigt nicht nur einen Papst, sondern auch die Nachwelt zu furchtlosem Handeln. Die als wahnsinnig geltende spanische Königin Johanna hält dem Jesuitenprovinzial Francisco Borja den Spiegel seines Lebens vor. Noch in der Todesstunde führt die Dichterin Vittoria Colonna Michelangelo aus seiner Verzweiflung zu neuer Schaffensfreude. Der Geist von Maria Theresia trifft auf ihren lebenslangen Widersacher Friedrich II. während der Beisetzung seiner Gebeine auf der Terrasse von Sanssouci und zwingt ihn zum Eingeständnis seiner Vermessenheit. Alle diese Frauen machten Frieden und weisen einen Weg zum Frieden. Hier ein längerer, spannender Auszug aus der titelgebenden Erzählung über Maria Theresia:

Sie machte Frieden

Sie hätten ein schönes Paar abgeben und ein Reich des Friedens in Mitteleuropa begründen können: die 1717 geborene Maria Theresia und der fünf Jahre ältere Kronprinz Friedrich. Doch die Verhandlungen zwischen dem Wiener und Berliner Hof zerschlugen sich. Sei es, weil die Verbindung der bedeutendsten Erbtochter Europas mit einem Preußenprinzen den Stolz der Habsburger nicht befriedigt hätte, sei es, weil die vierzehnjährige Maria Theresia entschlossen an ihrer großen Liebe zu dem neun Jahre älteren Herzog Franz Stephan festhielt, der noch ärmer war als der Preußenprinz. Die Astrologen, wären sie zu Rate gezogen worden, hätten ohnehin abgeraten. Das Quadrat zwischen der Geburtssonne der Österreicherin und der des Preußen verhieß nichts Gutes für eine eheliche Verbindung: zu unterschiedliche, ja einander ausschließende Charaktere. Er war ruhmsüchtig, zynisch, von einer spekulativen Intellektualität, hochfahrend, asketisch; sie dagegen auf Bewahrung ausgerichtet, fromm katholisch, pragmatisch, jovial, sinnlich. Auch ihre Gemeinsamkeiten hätten sie gegeneinander aufgebracht. Beide waren unermüdliche Arbeiter, duldeten keine Einmischung in Staatsgeschäfte durch die Familie, führten die Zügel des Staates mit fester Hand. Der Weiberfeind Friedrich den Rat einer Frau auch nur bedenken, niemals! Die Erbin eines Reiches vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer dem Diktat eines lieblosen Mannes folgen, ja, sich den Mund verbieten lassen, niemals!

So war es vom Menschlichen her gesehen für beide, vor allem aber für Maria Theresia, ein Segen, dass aus den Heiratsplänen nichts wurde. Friedrich unterwarf sich der Ordre des Vaters und heiratete 1733 Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern, eine Nichte des Kaisers in Wien, um sie nach dem Tode des Vaters für immer aus seiner Gegenwart zu verbannen. Er hielt nichts von Frauen und Fortpflanzung. Auf eine vorsichtig geäußerte Aufforderung, Vater zu werden, erwiderte er: „… wenn ich dieselbe Bestimmung habe wie die Hirsche – die gegenwärtig in der Brunstzeit sind –, so könnte jetzt in neun Monaten geschehen, was Sie mir wünschen. Ich weiß nicht, ob es ein Glück oder ein Unglück für unsere Neffen und Großneffen sein würde; die Königreiche finden immer Nachfolger und es ist ganz ohne Beispiel, dass ein Thron leer geblieben ist.“ Maria Theresias Vater unterwarf sich dem Wunsch seiner Tochter und ließ sie im Februar 1737 den Lothringer Franz Stephan heiraten, nunmehr Großherzog von der Toskana, einen liebenswürdigen, potenten, praktischen Mann, dem jegliche heroische Tugenden abgingen. Maria Theresia liebte ihn abgöttisch und gebar ihm sechzehn Kinder. Er nahm es mit der Treue nicht so genau wie sie. Erst im Alter lernte die temperamentvolle Frau, sich mit seinen Favoritinnen abzufinden, es fiel ihr schwer, aber sie verzieh ihm.

Mit dem Scheitern der offenbar nicht sehr nachdrücklich betriebenen Heiratspläne zwischen den Habsburgern und den Hohenzollern hätte es sein Bewenden haben können. Kein Stolz war verletzt, keine Wunden waren geschlagen worden. Einen Augenblick lang hatte der Traum von einem geeinten deutschen Reich aufgeleuchtet, nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal in der Geschichte, und war wie eine Sternschnuppe am dunklen Himmel verglüht. Maria Theresia genoss ihr Familienglück in Wien und Florenz und Friedrich die Rheinsberger Tage. Sie dankte der Jungfrau Maria für ihren Beistand bei den Geburten der Töchter; er korrespondierte mit Voltaire und schrieb den „Antimachiavelli“. Bis 1740 verband sie nichts als ihre Zeitgenossenschaft.

Im Mai dieses Jahres starb im Potsdamer Stadtschloss König Friedrich Wilhelm, der Soldatenkönig, erst 52 Jahre alt. Schon einige Jahre zuvor hatte er bemerkt: „Es liegt mir nichts mehr am Leben, da ich meinen Sohn hinterlasse, der alle Fähigkeiten hat, gut zu regieren. Er hat mir versprochen, dass er die Armee beibehalten wird. Er hat Verstand und alles wird gut gehen.“ Genau ein Jahrhundert nach dem Regierungsantritt des Großen Kurfürsten schickte sich dessen Urenkel Friedrich II. an, Großes zu vollbringen. Durch die harte, ja brutale Schule des Vaters gegangen, von ihm eingewiesen in die Verwaltung und die Struktur des Heeres, bot sich dem ehrgeizigen Schüler endlich die Möglichkeit, seinen Lehrer in den Schatten zu stellen. Von einem Tag auf den anderen warf er die Toga des Friedensfürsten ab und legte für den Rest seines langen Lebens die Uniform an, die er eben noch abfällig als „Sterbekittel“ bezeichnet hatte. Als Cäsar träumte er sich, als Machiavelli, den sein Gerede von gestern nicht kümmerte, als Philosoph der Pflicht und des unbedingten Gehorsams.

Wenige Monate nach dem Soldatenkönig starb in Wien der fünfundfünzigjährige Kaiser an einer Erkältung, die er sich bei der Jagd zugezogen hatte. Karl VI. und seiner Frau Elisabeth von Braunschweig-Wolfenbüttel waren Söhne versagt geblieben, nur Maria Theresia und eine jüngere Schwester hatten überlebt. Das Haus Habsburg erlosch in der männlichen Linie.

Von Frauen auf dem Thron hielt das 18. Jahrhundert nichts. Die Zeit der Herrscherinnen in Europa war lange vorbei. Eine Frau, fürchtete Kaiser Karl, würde keiner der Potentaten ernst nehmen, jeder würde versuchen, das Haus Habsburg zu plündern und seinen Ruin herbeizuführen. Und so hatte der besorgte Herrscher und Vater geglaubt, die meiste Zeit seiner Regierung damit zubringen zu müssen, der Tochter Maria Theresia das Erbe auf juristischem Wege zu sichern. In der „Pragmatischen Sanktion“ bestimmte er die Unteilbarkeit der habsburgischen Länder und legte die weibliche Erbfolge fest. Nach langen schwierigen Verhandlungen mit den europäischen Fürsten, die ihm Zugeständnisse, Gebiete, Privilegien abverlangten, erhielt er ihre Zustimmung für das Papier. Die Regelung der Erbfolge nahm ihn so in Anspruch, dass er darüber das Erbe vernachlässigte. Staat und Armee hinterließ er in einem maroden Zustand und die Erbin in vollkommener Ahnungslosigkeit politischer Geschäfte. Nur Unterschriften, die das Papier nicht wert waren, auf dem sie standen. Maria Theresia schrieb über ihre Situation beim Tod des Vaters: „Da sich der unvermutete betrübliche Todesfall meines Vatters höchstseliger Gedächtnüs ereignet und vor mich umb so viel mehr schmerzlich wäre, weilen nicht allein selben verehret und geliebet als einen Vattern, sondern als wie die mindeste Vasallin als meinen Herrn angesehen und also doppelten Verlust und Schmerzen empfunden und damahlen die zur Beherrschung so weit schichtiger und verteilter Länder erforderliche Erfahr- und Kenntnüs umb so weniger besitzen können, als meinem Herrn Vattern niemals gefällig wäre, mich zur Erledigung der auswärtigen noch inneren Geschäften beizuziehen noch zu informieren; so sähe mich auf einmal zusammen von Geld, Truppen und Rat entblößet.“

Die dreiundzwanzigjährige Maria Theresia verlor in diesem Jahr 1740 nicht nur den Vater, sondern auch die erste ihrer drei Töchter. Mit dem vierten Kind ging sie schwanger. Und sie übernahm ein Amt, auf das sie nicht vorbereitet war. Aber sie vertraute auf ihren Mut und Gottes Hilfe. In Friedrich hätte sie zuletzt einen Gegner vermutet. Hatte sich nicht ihr Vater für den Kronprinzen eingesetzt, als ihm in Küstrin die Todesstrafe drohte, ihn heimlich finanziell unterstützt? So bat sie den jungen Preußenkönig herzlich um seine Zustimmung zur Kaiserkrönung ihres Gemahls in der Nachfolge Karls VI. Zwar besagte der Kaisertitel nicht mehr viel, aber mit dem Glanz, der ihn von altersher umstrahlte, wollte Maria Theresia ihren geliebten Franzl für seine politische Bedeutungslosigkeit entschädigen. Denn so gut kannte sie ihn, dass er sich weder als Regent noch als Feldherr eignete, in die Regierung würde sie sich nicht von ihm hineinreden lassen.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:

Erstmals 1973 veröffentlichten Hildegard und Siegfried Schumacher im Kinderbuchverlag Berlin „Die Riesenwelle“: Die Klassen 4a und 4b stehen im Wettbewerb um gute Leistungen. Als der Klassenleiter der 4a vorübergehend beide Klassen übernehmen muss, gibt es Schwierigkeiten, weil die 4b den für sie neuen Lehrer ablehnt und die 4a sich vernachlässigt fühlt. Wie sich mit Hilfe der Erwachsenen aus diesem Gegeneinander ein freundschaftliches Miteinander entwickelt, erzählt ein Schüler der 4b, Klaro Isenhard, der einen Vater hat, der Kranbauer ist und dreimal die Riesenwelle an der Teppichstange drehen kann. Zu Beginn des Buches gibt Klaro Einblicke in seine Familie und erklärt, wieso er eigentlich fast überall „Klaro“ heißt:

Meine Familie

Ich heiße Klaro. Bei Großvater und bei Mama nicht. Aber sonst fast überall. Den Namen hat sich Vati ausgedacht. Er liebt Klarheit. Ich auch. Darum sage ich gern: „Klar!“

Natürlich liebt Vati noch mehr. Zuerst uns, dann seine Arbeit, den Montage-Eber im Kranbau, Autos, die Natur – und so weiter. Bloß über Gefühlssachen redet er nicht. Höchstens, dass er mal sagt, er sei stolz, dass er mit seinen achtunddreißig Lenzen dreimal Riesenwelle schaffe, das mache ihm so leicht keiner nach.

Wir turnen öfter zusammen an der Teppichstange, die Vati wie ein Reck gebaut hat. Er dreht sich mit mächtigem Schwung wie ein Propeller um die Stange. Es sieht wunderbar leicht aus, so, als könne er fliegen.

Das ist Riesenwelle, und dazu braucht man Riesenkraft. Für mich ist Riesenwelle noch nichts, aber ich trainiere. Unser Sportlehrer staunt, was ich schon kann. Oft sagt er zu mir: ,,Mach weiter so, Isenhard!“

„Das is ’n Name – Isenhard“, sagte Großvater neulich, der, bevor er auf Rente gehen musste, ein Schmied war. „Isen is nämlich Eisen und ganz was Besonderes – fest und biegsam in einem.“ Er strich mit seinen knochigen Fingern über den Schlüssel, der im Schraubstock klemmte und passrecht gefeilt werden sollte. „Is man bloß Ersatzarbeit für unsereinen. Aber so ’n Vorschlaghammer, zwölf Pfund, Junge, und wie die Funken stieben!“ Großvater holte aus, setzte dann jedoch nur die Feile an den Schlüssel. „Trotzdem – altes Eisen bin ich noch lange nicht, Karlemann. Nee, ich nicht! Und einer muss ja euren Kram besorgen, wenn ihr auf Arbeit seid.“

Auf Arbeit sind wir für Großvater alle: ich und meine beiden großen Schwestern in der Schule, Vati als Brigadier im Kranbau, wo auch Mama arbeitet, nur bei den technischen Zeichnern. Großvater arbeitet genauso viel, nennt es aber Euren-Kram-besorgen und Rumpusseln. Er ist eben ein bescheidener Mensch. Großvater hält unser Haus in Schuss und heizt, er baut und schlossert in seiner Kellerwerkstatt. Alles macht er. Bis auf Einkaufen und Küchenzeug. „In Frauensachen misch ich mich nicht ein“, sagt er, und dabei bleibt er. Großvater ist ein echter Isenhard. Was er nicht will, das will er nicht.

Zum Beispiel Carlo, meinen richtigen Vornamen. „Neumod’scher Romanfirlefanz!“ soll er zu Mama gesagt haben, als sie mit mir aus dem Krankenhaus kam und ich zum ersten Mal die Luft in der Wasserstraße 12a einatmete. Seitdem schenkt er ihr jahrein, jahraus zum Geburtstag und zu Weihnachten ein Kochbuch. Lesen bilde zwar, meint er, doch die beste Bildung sei die, von der wir was Vernünftiges haben. Auf diese Weise hat uns Großvater zu Feinschmeckern gemacht und Mama hintenherum ein Hobby anerzogen. Alle halbe Jahre wechselt sie je nach Großvaters Geschenk in ein anderes Land. Wir haben schon auf sibirisch, ungarisch, mexikanisch und werweißwie gespeist.

Mittwochs aber, wenn ich um zwölf rauskomme und den sich an diesem Tag ewig wiederholenden Schulmilchreis schwänze, kocht Großvater für uns beide Pellkartoffeln. Wir piken sie samt Butter- und Heringsstückchen mit unserm Taschenmesser vom Papier und spachteln, bis uns der Bauch prall hervorsteht. „Karlemann“, sagt Großvater, „was Besseres gibt’s nicht.“ Dann trinkt er einen Klaren zur Verdauung, und ich hebe die Flasche mit der grünen Waldmeisterbrause, die er beim Einkauf für unser Pellkartoffelgelage, seinem einzigen Einkauf, nie zu besorgen vergisst. „Nichts Besseres vom Nordpol bis zum Südpol!“, sage ich und proste ihm zu.

Mit Großvater kann man gut Heimlichkeiten haben. Nicht, dass wir unsere Familie damit kränken wollen.

Doch kann man alles allen auf die Nase binden? So findet unser Gelage stets in Großvaters Keller statt. Dort versteckt er den alten gusseisernen Kochtopf, und wir wedeln lange den Kochdunst aus dem Fenster, damit uns niemand auf die Schliche kommt und meine prompt einsetzende Appetitlosigkeit durchschaut. „Carlo“, sagt Mama am Abendbrottisch – auch das wiederholt sich jeden Mittwoch -, „ist es wieder der Milchreis, mein Kind?“ Ich bin bald zehn und kann es nicht leiden, wenn sie „mein Kind“ sagt. Deshalb stöhne ich, schließe die Augen und sperre den Mund auf, und sie schiebt mir einen Teelöffel voller Zucker und Baldriantropfen hinein. Diesen Geschmack mag ich. Trotzdem stöhne ich ein zweites Mal und seufze: „Ja, Mama, der Milchreis!“

Ich habe unsere gesamte Familie vom häuslichen Milchreis befreit, den außer Mama niemand gern isst, nicht mal auf holländisch mit Rosinen und brauner Butter. Nur meine Zwillinge müssen ihn einmal wöchentlich in der zweiten Essenpause, das ist die für die Großen, in sich hineinlöffeln. Gar nichts schadet es ihnen! Jutta und Marlene dürfen so schon eine Menge, was ich nicht darf: länger aufbleiben und fernsehen und sich aufs Leben der Erwachsenen vorbereiten, wie Vati sagte, als er ihnen erlaubte, sonnabends zwischen 15 und 17 Uhr seine Bücher zu benutzen.“

Erstmals 1982 veröffentlichte Jutta Schlott ebenfalls im Kinderbuchverlag Berlin „Früh und spät“: Nach dem Umzug in die Neubauwohnung in einer anderen Stadt können sich die drei Söhne, vor allem der 10-jährige Olaf, nicht daran gewöhnen, dass Vater und Mutter jetzt in zeitlich unterschiedlicher Schichtarbeit tätig sind. Olaf und Sven haben häusliche Pflichten zu erfüllen, die sie jedoch oft vernachlässigen. Voll Wehmut denkt Olaf manchmal an die Heimatstadt zurück, wo er die Oma besuchen konnte und einen Freund hat. Mit schlechten Zensuren in der Schule und Zigarettendiebstahl in der Kaufhalle bereitet er besonders seiner Mutter, die gerade ihren Meister macht und stark belastet ist, zusätzliche Probleme. Hier ist gleich eines davon, welches Olaf heftigen Ärger einbringt:

Donnerstag – Das Versäumnis

Es war März, Mitte März, aber der Winter war zurückgekommen. Zwei Tage lang fielen dicke, feuchte Flocken; jetzt lag der Schnee in grauen Häufchen schmuddelig und pappig an den Straßenrändern. Auf den Fahrbahnen und Wegen war er, kaum hingeweht, gleich zertaut oder zertreten worden.

Es nieselte, und der Junge stellte sich in den ersten Eingang des Häuserblocks oberhalb der Böschung.

Es war halb fünf oder kurz danach, er hätte es gewusst, ohne zur Säule mit der Digitaluhr zu sehen, denn die Möwen und Krähen hatten schon in großen Schwärmen krächzend und kreischend den allabendlichen Flug zu ihren Schlafplätzen begonnen. Stets flogen sie zur gleichen Zeit in die gleiche Richtung. Man hätte Uhr und Kompass nach ihnen stellen können. Der Junge hatte noch nie so viele Möwen gesehen wie in dieser Stadt. In Borna gab es überhaupt keine.

Zu den Füßen des Jungen, an der Haltestelle, kamen in schnellem Wechsel aus beiden Richtungen die Straßenbahnen an.

Die meisten Leute liefen, ohne nach links und rechts zu sehen, die gewohnten Wege. An diesem diesigen, nebligen Spätnachmittag schienen sie alle in Grau gekleidet. Manchmal leuchtete das Tuch einer Frau oder der Anorak eines Kindes farbig auf.

Der Junge hatte keine Sorge, die Mutter nicht zu erkennen. Sie trug Schal und Käppi in einem kräftigen Orange, aber sicherer noch erkannte er ihren Gang. Die Mutter ging aufrecht, in schnellen, schwingenden Schritten. Meist hielt sie den Kopf erhoben, ihr Haar fiel wellig bis weit über die Schultern.

Wenn die Mutter lief, sah es nicht aus, als überbrücke sie die Entfernung von einem Ort zum andern, sondern als sei das Gehen selbst ein Vergnügen.

Er beschloss, noch zehn Bahnen abzuwarten, wenn sie dann nicht dabei war, würde sie vor dem Abend nicht kommen, und es hatte keinen Sinn, dort weiterzustehen.

Die Abstände zwischen der Ankunft der Straßenbahnen wurden länger.

Der Junge stampfte kräftig mit den Füßen auf, um sich die Beine zu wärmen.

Die achte. Die neunte. Die zehnte. Eine noch, dachte er.

Auch mit der elften kam die Mutter nicht.

Er stülpte sich die Kapuze über und ging langsam um den Block herum, auf die Kaufhalle zu, deren blaue Leuchtschrift schon eingeschaltet war. Vielleicht traf er die Lehrlinge, um diese Zeit kamen sie oft.

Den ganzen Weg zurück rannte er im Laufschritt, stürzte die Treppen hoch, immer zwei, drei Stufen auf einmal. Er versuchte gleichmäßig zu atmen und drückte zaghaft auf den Klingelknopf.

Die Tür wurde von innen aufgerissen. Die Mutter stand vor ihm, sie war wütend, das sah er gleich. Sie hatte ein Geschirrtuch über die Schulter geworfen.

„’n Abend“, versuchte er zu grüßen.

„Weißt du, wie spät es ist?“, herrschte die Mutter ihn an.

Er sah auf ihre Hausschuhe und antwortete nicht.

„Olaf, ich habe dich etwas gefragt!“ Die Stimme der Mutter wurde energischer.

„Sieben“, quetschte er heraus.

„Es ist jetzt genau zehn Minuten nach sieben! Und wann solltest du zu Hause sein?“

„Um vier.“

Die Mutter, die ihn, nach vorn gebeugt, angesehen hatte, richtete sich auf. „Na fein, dass du dich erinnerst“, sagte sie spöttisch. „Und was solltest du dann?“

Olaf ließ den Kopf noch tiefer sinken. Er spürte unterm Kinn den Reißverschluss vom Anorak. Warum quälte sie ihn mit solchen Fragen. Sie wusste doch alles.

„Ich sollte Guschi abholen“, antwortete er leise.

Die Mutter stieß mit dem Fuß die Tür zum Wohnzimmer zu, in dem das Radio spielte. „Ihr sollt nicht immer Guschi zu ihm sagen!“

Als hätte er darauf gewartet, öffnete Gustav vorsichtig die Kinderzimmertür und steckte seinen Kopf heraus.

„Mami …“, fing er an.

„Du bleibst da!“ Die Mutter drehte ihn mit einer Hand an der Schulter um und schob den Kleinen zurück.

„Du erklärst mir jetzt, warum du Guschi – äh, Gustav – nicht abgeholt hast“, sagte sie ein bisschen weniger streng.

„Vergessen“, murmelte Olaf.

„Vergessen! Vergessen!“ Die Mutter wurde wieder wütend. „Was würdest du sagen, wenn ich mal ,vergesse‘, nach Hause zu kommen! Oder ich ,vergesse‘ mal, euch zu essen zu machen …“

Der Türgong läutete in den letzten Satz der Mutter.

Sie ging zur Tür. Es war Sven.“

Erstmals 2001 erschien 2001 im dr. Ziethen Verlag Oschersleben der Roman „Zeit der Schneeschmelze“ von Siegfried Maaß. Das Buch entstand mit freundlicher Unterstützung von Schlossbrunnen Wüllner GmbH Gänsefurth, der Beratungsstelle für Frauen und Familie Sachsen-Anhalt e. V., der Kreissparkasse Aschersleben-Staßfurt, des Sodawerkes Staßfurt GmbH & Co.KG und des Berufsförderungswerkes Sachsen-Anhalt gGmbH Staßfurt: Verrückte Geschichten schreibt das Leben. Da verehrt ein Schüler, der sich in seiner Familie und seiner Umwelt nicht mehr angenommen fühlt, seine Lehrerin, fühlt sich von ihr bestärkt in seinen Lebenswünschen. Und gerade deshalb entführt er sie, sperrt sie in einem Abrisskeller ein, gefährdet am Ende ihr Leben. Was treibt ihn dazu, sich gerade zu dieser Frau so zu verhalten?

Siegfried Maaß geht in seinem Roman dieser Frage nach, betrachtet sie in dem Geflecht von Beziehungen, in dem der Junge und seine Lehrerin verstrickt sind. Für den Leser steht nicht die Frage, ob dies hätte verhindert werden können, die man sich in ähnlichen Fällen so oft zu spät stellt, sondern erkennbar wird, dass hier Wünsche und Sehnsüchte unter Umständen aufeinandertreffen, die fast zwangsläufig unglücklich ausgehen müssen. Etwas Ungeheuerliches ist passiert:

Montag

Anna-Marie

Der schmale Streifen Tageslicht, der sich dort abzeichnete, wo die schwere Eisentür über der obersten Stufe der Kellertreppe endete, stellte die einzige Orientierungshilfe für sie dar. Doch die Wintertage waren kurz, und die junge Frau in dem dunklen Verlies fürchtete bereits die lange Nacht, die bald auch diesen einzigen Sichtpunkt auslöschen würde, der sie mit der Welt dort draußen verband.

„Hallo! Hört mich jemand? Ich bin hier unten im Keller! Helft mir!“

Wie oft hatte sie diesen oder einen ähnlichen Ruf schon hinausgeschrien? Längst war sie heiser, sodass sie nur noch flüstern konnte. Es kam ihr sogar vor, als wären ihre Stimmbänder inzwischen zu dicken Seilen angeschwollen. Sie schmerzten und schienen sie fast zu ersticken.

Niemand hatte sie gehört, und sobald sie in Gedanken den Weg nachvollzog, den der Junge sie geführt hatte, begriff sie, dass es aussichtslos war zu hoffen, sie könnte mit ihren Rufen irgendwen auf sich und ihre Notlage aufmerksam machen. In diese abgelegene Industriebrache verirrte sich niemand, und wäre Ben durch irgendein unbeeinflussbares Ereignis daran gehindert, sie weiterhin notdürftig zu versorgen und irgendwann wieder freizulassen, würde sie womöglich das Tageslicht nicht wiedersehen.

„Ich will hier raus!“, sagte sie, so gut es ging. „Ich will nicht sterben, ich bin erst 32 Jahre alt, im vorigen Monat hatte ich Geburtstag.“

Ängstlich beobachtete sie den Lichtstreifen, dessen eigentümliche Färbung ihr verriet, dass es später Nachmittag war und sie für heute ihre letzte Verbindung zur Außenwelt bald verloren hätte.

„Ich heiße Anna-Marie Tetzlaff …“ Ich bin es wirklich, dachte sie.

Aber mit einer fremden Stimme. An meiner Stimme kann mich niemand mehr erkennen. Auch Jens könnte es nicht.

Jens … „Nicht einmal zum Geburtstag hat er mir gratuliert. Ich wäre ganz allein gewesen, wenn mich nicht meine Chefin überrascht hätte. Plötzlich stand sie vor der Tür. Darum wurde es auch kein so trauriger Geburtstag, wie ich befürchtet hatte …“ Anna-Marie lauschte ihren Worten nach. 32 Jahre … Ich bin jung, dachte sie, und habe noch alles vor mir. Wer gibt Ben das Recht, mir die Hoffnung auf ein langes und erfülltes Leben zu nehmen?

„Manche Leute behaupten, ich würde bedeutend jünger aussehen. Dann lache ich zwar jedes Mal und bin verlegen, aber in Wirklichkeit habe ich es mir immer wieder gern angehört …“ Sie war froh, ihre eigenen Worte vernehmen zu können, mit denen sie nicht gegen die schmerzhafte Stille ankämpfen konnte, die sie aber ahnen ließen, dass diese nicht allmächtig und unüberbrückbar war. Geräuschlosigkeit fürchtete sie seit ihrer Kindheit ebenso wie Lichtlosigkeit. Dieser, die sie jetzt wie ein Kokon umgab, war sie allerdings völlig wehr- und machtlos ausgesetzt. Der kaum noch wahrnehmbare Streifen unter der Tür schien ihre Erkenntnis zu bestätigen. „Ja, ich habe es jedes Mal wieder gern gehört, wenn man mich jünger schätzte. Was sollte mir daran auch nicht gefallen? Besonders von Jens gefiel es mir. Es war für mich das schönste Kompliment.“

Gleich an ihrem ersten Abend hatte sie es zu hören bekommen, nachdem er ihr ganz geschickt ihr Alter entlockt hatte, sodass sie es nicht einmal als frech und uncharmant empfand.

„Dann sind Sie ja schon richtig erwachsen!“, fügte er noch hinzu und lachte, und später hatte sie sich immer dann an dieses jungenhafte Lachen erinnert, wenn sie einen Anlass sah, einen Vergleich zu jenem Abend zu ziehen, der für sie zu einem Maßstab künftiger Gemeinsamkeit geworden war.

Sie waren in der geräumigen Gaststätte die einzigen Gäste. Als sie zögernd eingetreten war und sich nach einem Platz umgesehen hatte, der sie nach Möglichkeit von dem jungen Mann auf der Fensterseite deutlich genug trennte, hatte er ihr sofort zugewinkt und dann einladend auf seinen Tisch gewiesen. Ob sie dem Wirt vielleicht zusätzliche Mühe bereiten wolle, noch an einem anderen Tisch bedienen zu müssen? Er hatte ihr bereits einen Stuhl zurechtgerückt, sodass sie es als sehr ungefällig empfunden hätte, seine freundliche Einladung auszuschlagen.

So hatte es mit ihnen begonnen …

„Was würde er sagen, wenn er mich jetzt sehen könnte? Behauptete er dann immer noch, ich sähe viel jünger aus? Ganz bestimmt nicht! Vielleicht würde er gar nicht glauben wollen, dass ich es bin. Ich selbst kann nur vermuten, dass ich einem Gespenst sehr ähnlich bin. Seit Tagen nicht gekämmt und nicht gewaschen. Die Haut in meinem Gesicht ist gespannt wie das Fell einer Trommel. Jede noch so leichte Bewegung schmerzt, von meinen Händen und Füßen will ich gar nicht reden. Als wenn sie kaum noch durchblutet sind. Ein dauernder Wechsel von Gefühllosigkeit und schneidendem Schmerz. Mal döse ich wie im Halbschlaf vor mich hin, dann wieder könnte ich nur toben und schreien. Ich kann aber nur schreien, was mich noch wütender macht …“ Ich konnte es, widersprach sie sich in Gedanken. Aber ich habe mich umsonst heiser geschrien …“

Erstmals 1972 – also vor nunmehr auch schon wieder einem halben Jahrhundert – veröffentlichte Hans-Ulrich Lüdemann wiederum im Kinderbuchverlag Berlin „Doppelzweier“: Es gibt Tage, da sollte einer gar nicht das Bett verlassen müssen. Im Bad erkennt man auf Anhieb, dass Zahnpasta nicht ausreichend vorhanden ist; beim Frühstück ist das Ei steinhart gekocht, obwohl stets vier bis fünf Minuten vorgegeben sind; auf dem Weg zur Schule fällt einem ein, dass eine Hausaufgabe in Mathe vergessen wurde; die Bio-Tante – sprich Lehrerin für Biologie – kennt an diesem Tage wohl nur den einen Schüler, und der von ihr andauend mit Fragen traktiert, obwohl dieser Schüler so gut wie gar nicht vorbereitet ist oder gerade deswegen? Am Nachmittag eines solchen Tages atmet Klas Miggelsen auf, als er die ersten Schläge auf dem Flüsschen Ryck durchzieht und sein Skiff pfeilschnell durchs Wasser von dannen zieht. Und dann? Ja, dann sieht er die am Ufer nebenher radelnde Rieke Habedank! Und der erfolgreichste Skuller des RC Poseidon kann nicht anders als die Schlagzahl zu erhöhen, um dem Mädchen zu zeigen, was für ein Kerl er ist und dass Rieke auf dem Fahrrad gegen ihn keinen Stich sieht.

Jeder Fischkopp, also die, die in der Nähe des Rycks wohnen, kennt die so genannten Mäander, ein Laie würde sagen, etliche Flusskrümmungen hintereinander, und weiß daher um die Gefährlichkeit für alle Ruderer. Rieke Habedank – ade! Klas, auch Krischan gerufen, hört mit Entsetzen das Reißen der Bespannung am Skiff. Irgend so ein Landei hatte mit Stacheldraht seinen Angelkahn im Schilf vertäut.

So oder ähnlich beginnt an jenem Tag ein lange anhaltender Ärger des Supertalents Klas Miggelsen. So einfach ist es nämlich nicht um eine Reparatur bestellt. Während Zühlow wegen der fehlenden Folie nicht helfen kann, nutzt Jochen Breiting die Situation, um einen im Bootshaus unter der Decke herumhängenden Doppelzweier ins Spiel zu bringen. Dem Pädagogik-Studenten Breiting ist das Getue um den Super-Skuller Klas Miggelsen schon längst ein Ärgernis. Er fürchtet um Schaden für dessen Charakter. Deshalb ist er willens, seinen Bestmann mit dem Zugereisten Heiner Kruse in ein Boot zu setzen …

Krischan soll sich also in diesem kleinen Kollektiv bewähren, was dem Betroffenen überhaupt nicht einleuchtet. Mit dem Anfänger Kruse wird es nämlich keine Medaillen mehr geben, keine lobenden Worte vor versammelter Schülerschar durch den Direktor, keine Delegierung zu überregionalen Ausscheidungsrennen im Einer! Zu allem Übel scheint sich Rieke Habedank auch für die magere Latte aus Sachsen zu interessieren. Neue Auseinandersetzungen gilt es zu bestehen: als Klas aus der Werft eine Folienrolle mitgehen lässt, um Käptn Zühlow zur Reparatur des Skiffs zu bewegen, da hat er den Bogen überspannt. Fortan geht für Klas Miggelsen alles schief. Das Zerwürfnis zwischen den beiden scheint unlösbar. Die Frage kommt auf, inwieweit der Leistungssport in der Lage ist, lautere Charaktere herauszubilden, die sich durch Willenskraft, Fleiß und Hilfsbereitschaft auszeichnen. Ist der Kampf um Medaillen mehr oder weniger Drill, welche Methoden sind erlaubt und welche sind zum Vorteil der jungen Sportler abzulehnen? Wie groß ist die Gefahr, dass Leistungssportler statt eines Gehirns nur einen Muskel im Kopf haben?

Aus der Vita des Autors ist ersichtlich, dass er unter anderem Sportwissenschaften studiert hatte. In seinen „Doppelzweier“ fließen also eigene Erfahrungen ein. Und nicht zu vergessen – es gibt ein Leben nach dem Sport! Was kann einer nach seiner Zeit im Kampf um Meter und Sekunden im Alltag bestellen, wenn seine aktive Zeit vorbei ist? Fragen, die selbst in den Minuten des Sieges auf dem Podest – vornehmlich bei jungen Sportlern – nicht außer Sicht geraten dürfen.

Im Übrigen wurde das immer noch mit Spannung zu lesende Buch 1976 von der DEFA für das Fernsehen unter dem Titel „Dann steig ich eben aus“ (Regie: Fred Noczynski) verfilmt. An der Produktion waren damals auch Sportler aus dem Rudersportverein Schwedt beteiligt. Und damit zurück zu Supertalent Klas Miggelsen und zu einer gewissen Rieke Habedank, die zu Wasser und zu Lande unterwegs sind. Gleichzeitig …

„1. Kapitel

„Schietkram“, sagte der Bootswart durch die zusammengepressten Lippen, die mit Mühe eine kurze Tabakpfeife waagerecht hielten.

Weiß wie eine Kalklatte stand Pinne an der offenen Schiebetür, die den Blick freigab in das Halbdunkel des Bootsschuppens. Jetzt kommt’s, dachte Pinne. Am liebsten würde Käptn Zühlow mich jetzt kielholen.

Käptn Zühlows schwielige Hand fasste den Pfeifenkolben. Er brauchte keine Angst zu haben, dass er sich verbrennen würde. Die Pfeife rauchte nur nach Feierabend. Das wussten alle Mitglieder des RC Poseidon. Auf dem Bootsgelände war das Rauchen ohnehin untersagt. Mit der Zunge fuhr der Alte sich über die trockenen Lippen.

„Verdammter Schietkram!“, wiederholte der Käptn. Diesmal brüllte er so laut, dass einige Möwen vom Bootssteg hinter dem Hügel kreischend aufstiegen.

Pinne ließ den Kopf hängen. Käptn Zühlow hatte recht. Der Einer war erst einmal hin. Und in zwei Monaten wurden die Ausscheidungsrennen zur Sommerspartakiade gestartet.

„Und wenn man …“, begann Pinne zaghaft, ohne den Satz zu beenden und ohne aufzusehen.

„Wenn man was?“, entfuhr es Käptn Zühlow. Er steckte die Tabakpfeife wieder zwischen die Zähne.

Pinne dachte: Was fragt er mich denn? Er weiß doch ganz genau, was ich meine. Ich habe es doch nicht mit Absicht gemacht, das mit dem Skiff!

„Ob man ihn wieder hinkriegt bis zum Rennen, meine ich, Herr Zühlow.“ Nach diesen Worten warf Pinne einen Seitenblick auf das Rennboot. Es sah aus, als hätte jemand mit einem scharfen Finndolch hineingestochen. Und das mehrmals. Ein weidwundes Tier, dieses Skiff. Pinne beobachtete, wie Käptn Zühlow zu den beiden Böcken ging, auf dem der einzige Renneiner des RC Poseidon lag. Wie zur letzten Ruhe gebettet, darauf wartend, für immer dem Wasser Lebewohl zu sagen. Die schmale, sehnige Hand des ehemaligen Segelmachers der Kaiserlichen Marine hob den Bootskörper an. Spielend leicht ist so ein Skiff. Es gleicht einer verstrebten Holzschale. Bug und Heck sind mit Kunststofffolie überspannt. Diese Luftkästen halten Boot und Besatzung über Wasser. Die beiden Skulls in den Auslegern verhindern sein Umschlagen.

Pinne hatte mit dem Rudern in der fünften Klasse begonnen. Sein erstes Boot war ein Gig. Er lernte alle Tücken dieser schweren Übungsboote kennen. Als er später in die Rennklasse umsteigen durfte, hatte Pinne das Gefühl, am Ufer einen zentnerschweren Rucksack zurückgelassen zu haben. Jeder Zug der beiden Skulls ließ den leichten, ungefähr acht Meter langen Renner nach vorn schießen. Und – Zug! Und – Zug! Und – Zug! Wie das Pendel einer Standuhr musste es gehen. Im Vorrollen die Blätter aus dem Wasser, beim Rückrollen im Wasser durchziehen. Eins, zwei! Wie oft hatte Pinne sich dieses Kommando selbst gegeben und dabei die Luft schräg hoch zur Stirn gepustet, dass die Schweißtropfen von der Nasenspitze flogen. Dahin, wo die Füße an die Stemmbretter geschnallt waren. Ja, wer ein Skiff fuhr, musste schon was können. Was, wenn der Einer umkippt? Bleibt der Skuller mit den Beinen nicht am Stemmbrett hängen? Das ist Pinne schon oft gefragt worden. Zuerst von seiner Mutter, die manchmal lächelnd sagte: Warum läufst du nicht hinter einem Fußball her wie die anderen, Junge? Wasser hat keine Balken, Klas.

Käptn Zühlow sagt immer Krischan zu ihm, während die anderen aus der Klasse 7a ihn Pinne rufen. Obwohl im Klassenbuch klar und deutlich steht: Klas Miggelsen. Aber ein Klassenbuch gibt keine Auskunft über die Körpergröße der Schüler. Und das war bei Klas der springende Punkt. Springender Punkt – ein Lieblingsausdruck von Pinnes Vater, der als Schweißer auf der Werft arbeitet. Von ihm hatte Klas die kleine Statur. Das behaupteten jedenfalls die anderen Miggelsens aus der Verwandtschaft. Mit ein Meter sechzig ist in einer siebenten Klasse nicht viel Staat zu machen. Beim Rennrudern eigentlich erst recht nicht. Aber Trainer Breiting hatte Klas damals trotzdem genommen. Weil der Junge offensichtlich Talent besaß. Und vor allem die nötige Willenskraft, was ja wohl wichtiger ist als die fehlenden Zentimeter. Klas Miggelsen brauchte keine Angst zu haben, dass er in der Schule übersehen wurde. Vor allem ab Frühjahr nicht. Weil die Rudersaison dann beginnt, wenn es auf dem Wasser wieder warm wird. Nachdem Klas in den Einer umgestiegen war, gewann er im Vorjahr fünfmal und setzte sich damit ohne viel Mühe in den Vorkämpfen zur Teilnahme an dem diesjährigen Sommerspartakiadeausscheid durch. Nach jedem Sieg holte ihn Direktor Drews, der in der 7a auch im Fach Deutsch unterrichtete, beim montäglichen Fahnenappell nach vorn. Vor alle angetretenen Schüler! So kam es, dass Pinne selbst unter den Älteren seine Anhänger hatte. Er bemühte sich, sie nicht zu enttäuschen. Selbst heute, am Sonntag, wo die meisten mit den Eltern zum Baden gefahren waren oder einfach in den freien Tag hinein lebten – Pinne machte seine Kilometer. So wie es der Trainingsplan vorsah, den Jochen Breiting und er im Frühjahr für die Rennsaison ausgearbeitet hatten. Das Training an diesem Maisonntag hatte wie hundert andere Trainingstage begonnen. Trainer Breiting kümmerte sich um Frank und Thomas. Beide sind eine gute Crew im Doppelzweier. Pinne skullte hinterher, den Fluss abwärts in Richtung Bodden. Kurz vor der Mündung hatte er gewendet, weil die steife Brise über dem offenen Gewässer sein leichtes Skiff umzuschlagen drohte. Auf dem Rückweg begegnete Pinne nur wenigen Booten. Es war den meisten Leuten zu heiß, sie aalten sich lieber im weißen Sand und ließen sich die Sonne auf den Bauch scheinen.

Und – Zug! Und – Zug!

Plötzlich hatte Pinne am Ufer Rieke Habedank mit ihrem Bruder gesehen. Die beiden radelten immer ein Stück auf dem Weg voraus und lachten über den einsamen Skuller auf dem Fluss. Klas hatte da die Blätter ins Wasser gehackt, als ginge es um Olympisches Gold. Er wollte der schwarzhaarigen Rieke beweisen, dass sie zwar in der Klasse 7b einiges zu sagen hatte, aber in einem Wettkampf ihm unterliegen musste. Wie ein Pfeil war das Skiff durch das Brackwasser geschossen. Über die Heckfahne, die das Emblem des RC Poseidon trug, peilte Klas die Richtung an. Rudern mit dem Rücken in Fahrtrichtung – auch das muss ein Skuller erst lernen. Rieke und ihr Bruder Robert, Pinne kannte ihn von den Pausen auf dem Schulhof, hatten anfangs Schwierigkeiten gehabt, mitzuhalten. Aber da Pinne mehrmals den Flusswindungen steuerbords und backbords folgen musste, war es für den Skuller ein aussichtsloses Rennen. Pinne wollte es nicht wahrhaben. Von Rieke ließ er sich nicht unterkriegen! Er kämpfte immer so lange, bis er glaubte, alles gegeben zu haben.“

Womit man wieder einmal sehen kann, welche Kräfte männlich-weibliche Auseinandersetzungen freisetzen können. Das gilt natürlich bis heute. Die Frage ist allerdings, wie charmant und zivilisiert diese Auseinandersetzungen ablaufen. Es gibt dafür ein schönes deutsches Wort, welches da lautet – Kameradschaft …

Viel Vergnügen beim Nachdenken über Mann und Frau und inzwischen auch über ein drittes Geschlecht, also kurz über menschliche Verhältnisse, viel Vergnügen beim Lesen, einen richtig schönen Sommer und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.

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