Es scheint so, als hätten südliche Frühlingswinde ein Blütenmeer in die Pinakothek der Moderne hineingewirbelt. Inmitten des Münchner Winters mutet die zartfarbene Fülle in der Rotunde wie ein Versprechen der Natur an, dass der Frühling zurückkehren wird.

In ihrer luftigen Bodenskulptur fluky flora hinterfragt die junge Münchner Bildhauerin Olga Golos (*1987, Krasnojarsk, Russland) die Suche nach dem Glück – dauerhaftes Glück ist eine uralte, bis heute ungestillte Sehnsucht der Menschen.

Sosehr wir uns auch bemühen, lässt das Glück sich gleich einem Blütenwirbel weder festhalten noch kontrollieren. Es bleibt flüchtig. Von alters her wurden Glücksbringer und Rituale erdacht, die das persönliche Schicksal positiv beeinflussen sollten. Ausgewählt wurden oft Objekte der Natur mit zufälligen Abweichungen von der Norm, die aufgrund ihrer Besonderheit dazu berufen schienen, als Talisman die Glückssuche befördern zu können. Ein sinnbildliches Beispiel hierfür geben die vielgesuchten vierblättrigen Kleeblätter ab, die in der westlichen Kultur als Glücksbringer gelten und heutzutage aus den modernen technoiden Messenger-Diensten und sozialen Netzwerken als glücksverheißendes Emoji nicht mehr wegzudenken sind.

In Russland und einigen osteuropäischen Ländern dagegen gehören Fliederblüten mit fünf statt vier Blütenblättern zu den Glücksbringern. In der Natur bleibt im Frühling kaum jemand von den stark duftenden Blütentrauben, die von dunklem Lila bis hin zu lichtem Weiß reichen, unbeeindruckt. Durch Mutation kommt es jenseits des biologischen Bauplans zufällig dazu, dass einzelne Blüten fünf Blütenblätter ausbilden. In der russischen Volkskultur wird angenommen, dass man den ganzen Tag Glück erfährt, wenn man einer dieser seltenen Blüten habhaft wird und sie verspeist.

Bemerkenswert an diesen Brauchtümern ist, dass gerade die Abweichung vom Regelfall als etwas Glücksverheißendes verstanden und nicht mit schlechtem Karma belegt wird.

Eben diese positive Bewertung eines von der Norm abweichenden Phänomens veranlasste Olga Golos dazu, einen volkstümlichen Brauch ihrer ehemaligen Heimat in eine überwältigende Skulptur zu übersetzen und uns in einen Glücksrausch zu versetzen. Erst mit etwas Abstand und jenseits unserer spontanen Begeisterung für die spielerische Glückslotterie auf der Suche nach einer fünfblättrigen Fliederblüte könnte man sich fragen, wie anfällig wir für Entscheidungen jenseits der Vernunft sind, wenn sie nur glücksverheißend oder erfolgsversprechend sind. Im Gegensatz zum extrem seltenen Vorkommen in der Natur finden sich in der Installation neben den üblichen Fliederblüten auffallend viele solcher fünfblütigen Glücksblüten, was die Entscheidungsfindung – geben wir uns einem irrationalen, mit Aberglauben behafteten Spiel hin oder hinterfragen wir unser instinktives Verhalten? – nicht leichter macht.

Im zurückliegenden Jahr haben weltumfassende Ereignisse Altvertrautes und sicher Geglaubtes existenziell infrage gestellt. Ohne es vorhersehen zu können, war auch das Rotundenprojekt 2022 | Part IV fluky flora davon betroffen. Die dem Werk inhärente künstlerisch-spielerische Kritik an der menschlichen Irrationalität erscheint vor dem Hintergrund der politischen Situation in Osteuropa so unerwartet aktuell. Jenseits von Glückbringern bleibt die Hoffnung, dass die Vernunft wie ein luftiges Blütenmeer an Terrain gewinnen wird.

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