„Die DMSG setzt sich für eine deutliche Aufwertung der Suizidprävention ein“, sagt Prof. Judith Haas, Bundesvorsitzende der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft. „Ich begrüße ausdrücklich die Initiative der Abgeordneten des Deutschen Bundestages für die Einführung eines Suizidpräventionsgesetzes. Gerade in einer Situation, in der bereits seit längerem darüber diskutiert wird, dass professionell wie ehrenamtlich (in der Familie) pflegende Personen massiv überbeansprucht sind und Ressourcenmangel, u. a. auch Personalmangel, zum Alltag in Klinik und niedergelassener Praxis gehört, darf gesamtgesellschaftlich nicht die Situation entstehen, dass Menschen mit hohen Bedarfen in pflegerischer, medizinischer, therapeutischer Hinsicht alleingelassen werden und sich als Last für die Angehörigen und die Gesellschaft erleben“, erläutert Haas.

DMSG-Bundesgeschäftsführer Herbert Temmes hebt ausdrücklich hervor, dass „unsere Gesellschaft sich mit aller Kraft dafür einsetzen muss, dass sich Menschen nicht in eine Lage versetzt sehen dürfen, die ihnen einen Sterbewunsch nahelegt. Das deutsche Gesundheits- und Sozialsystem ist so zu gestalten, dass Menschen weder materiell noch mental in eine Situation geraten, aus der sie nur einen Ausweg durch einen vollendeten Sterbewunsch sehen.“ Auch Temmes begrüßt die Initiative für ein Suzidpräventionsgesetz.

„Wir verstehen sowohl aus beratender, begleitender (selbsthilfeorientierter) als auch aus medizinischer Perspektive, dass Menschen durch eine chronisch progrediente Erkrankung mit schweren bis schwersten Verläufen und Einschränkungen im Einzelfall auch mit der Frage konfrontiert werden, dass sie ihr Selbstbestimmungsrecht auch mit Blick auf den eigenen Sterbewunsch umsetzen möchten.  Aus langjähriger Erfahrung wissen wir aber auch um die vielen, die trotz schwerer oder schwerster Einschränkung ihr Leben mit MS gemeinsam mit ihren Angehörigen meistern und es als erfüllt und lebenswert ansehen. Diese lebensbejahende Einstellung gilt es, für die Multiple Sklerose insgesamt weiter zu befördern und alle gegenteilig wirkenden Einschränkungen, wie weitere Krankheiten oder Mangel an Mitteln zu verringern. Die Einrichtung von Beratungsstellen für Menschen mit Wunsch zum assistierten Suizid darf nicht zum Alibi für eine Gesellschaft werden, die nicht mehr in der Lage ist, Menschen mit schweren körperlichen und / oder seelischen Erkrankungen den notwendigen Beistand zu leisten“, erklärt Haas.

„In Deutschland darf sich niemand aufgrund von fehlenden Mitteln gedrängt sehen, einen Sterbewunsch zu entwickeln“, so Temmes ergänzend. Diskriminierenden Diskursen sei entgegenzuwirken. Haltungen, die den Wunsch zu sterben, von außen befördern, sei aktiv entgegenzutreten. Dies alles müsse in einem Suizidpräventionsgesetz seinen Platz finden.

Deutschlandweit sind nach aktuellen Auswertungen der Gesetzlichen Krankenversicherung rund 240.000 Menschen an Multipler Sklerose erkrankt. Aufgrund des anzunehmenden Anteils an Privatversicherten mit Multipler Sklerose ist derzeit von rund 260.000 bis 280.000 Menschen mit Multipler Sklerose bundesweit auszugehen (Holstiege 2021). Die Anzahl der neu diagnostizierten MS-Erkrankten pro Jahr ist steigend (Heitmann et al., 2020). Jährlich werden um die 15.000 Menschen mit MS in Deutschland neu diagnostiziert, zunehmend mehr Frauen als Männer. Die Multiple Sklerose ist keine Erbkrankheit, wenngleich das Risiko bei der Kombination bestimmter Erbfaktoren steigt. Die Erkrankungswahrscheinlichkeit (Robertson, 1996) ist innerhalb von Verwandten ersten Grades gegenüber der Normalbevölkerung erhöht, aber zusätzlich von Faktoren wie Breitengrad, Lebensstil und bestimmten Virusinfektionen beeinflusst (Alfredssohn et al., 2019). Für Menschen, die die Diagnose MS neu erhalten, stehen wirksame Medikamente zur Behandlung zur Verfügung. Auch für die Behandlung der unterschiedlichen Symptome gibt es zahlreiche wirksame Therapien.

Die Multiple Sklerose ist eine chronisch entzündliche degenerative Autoimmunerkrankung des Nervensystems: auf Grund der individuell sehr unterschiedlichen Verläufe und Symptome als „Krankheit mit den tausend Gesichtern“ bekannt. Auffällig ist der deutlich höhere Anteil von Frauen bei der schubförmigen MS (RRMS) – das Verhältnis Frauen zu Männern beträgt inzwischen 3:1 (Dt. MS-Register, 2020). Bei Frauen bis zum 20. Lebensjahr beträgt das Verhältnis sogar 4:1. Dieses Verhältnis verändert sich bei der primär chronisch progredienten Verlaufsform der MS (PPMS): Männer sind in 50 Prozent betroffen. PPMS tritt in ca. 10 Prozent  aller MS-Fälle auf; PPMS führt sehr viel schneller als die schubförmige Verlaufsform zu Einschränkungen und deutlichen Behinderungen. MS ist die häufigste entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems, die im frühen Erwachsenenalter trotz therapeutischer Fortschritte zu den meisten Einschränkungen im Alltag führt. Dazu gehört vor allem auch die im Vergleich zu Gesunden immer noch deutlich frühere Berentung wegen Erwerbsminderung (DMSG, 2022).

Pflegebedürftigkeit ist nachweislich ein Risiko, das mit Multipler Sklerose häufiger assoziiert ist. 4,1 % der im Jahr 2021 im Deutschen MS-Register dokumentierten MS-Erkrankten nehmen ambulante Pflegehilfen in Anspruch. 23,4 Prozent, d. h. beinahe jeder vierte Multiple Sklerose-Erkrankte bedarf der Unterstützung im häuslichen Umfeld (Dt. MS-Register 2020/2021 / Flachenecker et al. 2017). Diese Hilfe wird übereinstimmend mit den bekannten Daten der Allgemeinbevölkerung zumeist von nahen Angehörigen erbracht. Der Bedarf an Unterstützung steigt mit zunehmendem Alter und Dauer der Erkrankung deutlich an. Bei den über 60-jährigen Menschen mit MS betrug der Anteil fast 50 Prozent. Menschen mit Multipler Sklerose gehören auch zu dem Personenkreis, der immer wieder in den Medien genannt wird, wenn es um die Neuregelung der Suizidbeihilfe geht.

Literatur:

Alfredsson L, Olsson T. Lifestyle and Environmental Factors in Multiple Sclerosis. Cold Spring Harb Perspect Med. 2019 Apr 1;9(4): a028944. doi: 10.1101/ cshperspect.a028944.PMID: 29735578

Berichtsband des Deutschen MS-Registers. Jahrgang 2020. Online abrufbar: https:// www.msregister.de/… Report_Bericht_2020_V32_Online.pdf (PDF; Veröffentlicht am 24.11.2021)

Berichtsband des Deutschen MS-Registers. Jahrgang 2021. Online abrufbar: https://www.msregister.de/… (PDF; Veröffentlicht am 06.10.2022)

Flachenecker P, Kobelt G, Berg J, Capsa D, Gannedahl M; European Multiple Sclerosis Platform. New insights into the burden and costs of multiple sclerosis in Europe: Results for Germany. Mult Scler. 2017 Aug;23(2_suppl):78-90. doi: 10.1177/1352458517708141. PMID: 28643593.

Heitmann H, Haller B, Tiemann L, Mühlau M, Berthele A, Tölle TR, Salmen A, Ambrosius B, Bayas A, Asseyer S, Hartung HP, Heesen C, Stangel M, Wildemann B, Haars S, Groppa S, Luessi F, Kümpfel T, Nischwitz S, Meuth SG, Klotz L, Linker RA, Zettl UK, Ziemann U, Tumani H, Tackenberg B, Zipp F, Wiendl H, Gold R, Hemmer B, Ploner M; German Competence Network Multiple Sclerosis (KKNMS). Longitudinal prevalence and determinants of pain in multiple sclerosis: results from the German National Multiple Sclerosis Cohort study. Pain. 2020 Apr;161(4):787- 796. doi: 10.1097/j.pain.0000000000001767. PMID: 32197038.

Holstiege J, Klimke K, Akmatov MK, Kohring C, Dammertz L, Bätzing J. Bundesweite Verordnungstrends biologischer Arzneimittel bei häufigen Autoimmunerkrankungen, 2012 bis 2018. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi). Versorgungsatlas- Bericht Nr. 21/03. Berlin 2021.

MS-Erkrankte bleiben länger erwerbstätig. Eine aktuelle Auswertung aus dem MS-Register der DMSG, Bundesverband e.V. (DMSG), untersucht Trends bei der vorzeitigen Berentung bei MS- Erkrankten. Erschienen in aktiv!, Nr. 275, Ausgabe 2/2022. S. 28-29.

Positionspapier „Zwischen Lebensschutz und Selbstbestimmung – Paritätische Eckpunkte zur geschäftsmäßigen Suizidassistenz“, 29.04.2022, Paritätischen Gesamtverbandes, Online abrufbar: https://www.der-paritaetische.de/… 29_Eckpunktepapier_gesch%C3%A4ftsm%C3%A4%C3%9Fige_Suizidassistenz_Parit%C3%A4t.p df

Robertson NP, Fraser M, Deans J, Clayton D, Walker N, Compston DA. Age-adjusted recurrence risks for relatives of patients with multiple sclerosis. Brain. 1996 Apr;119 (Pt 2):449-55. doi: 10.1093/brain/119.2.449. PMID: 8800940.

 

Über den Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Bundesverband e.V.

Hintergrund:
Der DMSG-Bundesverband e.V., 1952/1953 als Zusammenschluss medizinischer Fachleute gegründet, vertritt die Belange Multiple Sklerose Erkrankter und organisiert deren sozialmedizinische Nachsorge.

Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft mit Bundesverband, 16 Landesverbänden und derzeit mehr als 750 örtlichen Kontaktgruppen ist eine starke Gemeinschaft von MS-Erkrankten, ihren Angehörigen, 4.186 engagierten ehrenamtlichen Helfern und 251 hauptberuflichen Mitarbeitern. Insgesamt hat die DMSG rund 42.000 Mitglieder.

Mit ihren umfangreichen Dienstleistungen und Angeboten ist sie heute Selbsthilfe- und Fachverband zugleich, aber auch die Interessenvertretung MS-Erkrankter in Deutschland. Schirmherr des DMSG-Bundesverbandes ist Christian Wulff, Bundespräsident a.D.

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems (Gehirn und Rückenmark), die zu Störungen der Bewegungen, der Sinnesempfindungen und auch zur Beeinträchtigung von Sinnesorganen führt. In Deutschland leiden nach Zahlen des Bundesversicherungsamtes mehr als 240.000 Menschen an MS. Trotz intensiver Forschungen ist die Ursache der Krankheit nicht genau bekannt.

MS ist keine Erbkrankheit, allerdings spielt offenbar eine genetische Veranlagung eine Rolle. Zudem wird angenommen, dass Infekte in Kindheit und früher Jugend für die spätere Krankheitsentwicklung bedeutsam sind. Welche anderen Faktoren zum Auftreten der MS beitragen, ist ungewiss. Die Krankheit kann jedoch heute im Frühstadium günstig beeinflusst werden. Deutschlandweit sind schätzungsweise 280.000 Menschen an Multipler Sklerose erkrankt, weltweit etwa 2,8 Mio. Menschen.

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