Die vier Finalist*innen des Deutsche Börse Photography Foundation Prize 2024 stehen fest: VALIE EXPORT, Gauri Gill & Rajesh Vangad, Lebohang Kganye und Hrair Sarkissian.

Der einflussreiche Prize, der 1996 von der Photographers‘ Gallery in London ins Leben gerufen wurde, zeichnet jährlich Künstler*innen für ihre Projekte aus, die in den vergangenen 12 Monaten einen bedeutenden Beitrag zur Fotografie geleistet haben.

In seiner mittlerweile 27-jährigen Geschichte hat sich der Prize, der auf herausragende, innovative und zum Nachdenken anregende Positionen aufmerksam macht, zu einer der international renommiertesten Auszeichnungen für Fotograf*innen entwickelt. Die für den Deutsche Börse Photography Foundation Prize 2024 ausgewählten Projekte setzen sich kritisch mit drängenden Anliegen auseinander – von den Hinterlassenschaften von Krieg und Konflikt, über Erfahrungen von Diaspora-Gemeinschaften und Dekolonisierung bis hin zu Themen wie umkämpfter Heimat, Tradition und Erbe, Gleichheit und Geschlechterfragen. Mit ihren unterschiedlichen Projekten veranschaulichen die Künstler*innen die einzigartige Fähigkeit der Fotografie, Unsichtbares, Vergessenes oder Marginalisiertes ans Licht zu bringen und Wege der Wiedergutmachung zu entwerfen. 

Die Ausstellung der ausgewählten Projekte wird vom 23. Februar bis zum 2. Juni 2024 in der Photographers’ Gallery, London zu sehen sein. Vom 15. Juni bis zum 15. September 2024 wird sie in der Deutsche Börse Photography Foundation in Frankfurt/Eschborn präsentiert.

Der*die Gewinner*in der Auszeichnung wird im Rahmen einer Preisverleihung am 16. Mai 2024 in der Photographers’ Gallery bekanntgegeben und erhält ein Preisgeld von 30.000 Britischen Pfund. Die anderen drei Finalist*innen erhalten jeweils 5.000 Britische Pfund. Einzelheiten zur Ausstellung und Preisverleihung werden Anfang 2024 bekanntgegeben.

Die ausgewählten Finalist*innen 2024 und ihre Projekte sind:

VALIE EXPORT – für ihre Ausstellung „VALIE EXPORT – The Photographs“ am Fotomuseum Winterthur, Schweiz (25. Februar bis 29. Mai 2023), in Kooperation mit der Albertina, Wien. 

VALIE EXPORT (*1940, Österreich) wurde in den späten 1960er Jahren für ihre radikalen Performances und ihre kritische Befragung der Rolle der Frau in der Gesellschaft und der Kunst bekannt. Mit ihrer unerschrockenen künstlerischen Praxis weist sie auf festgefahrene patriarchale Strukturen in der Bildkultur der Massenmedien hin und deckt so die Rolle auf, die die Darstellung in der Konstruktion von Geschlecht, Sexualität und gesellschaftlichen Normen spielt.

In Fotografien, filmischen Arbeiten und Installationen bearbeitet VALIE EXPORT Schlüsselthemen wie das Verhältnis von Körper und Blick, Performance und Bild, Subjekt und Umgebung. Die Fotografie – von der Dokumentation über multimediale Installationen und Einzelarbeiten – spielt eine zentrale Rolle in ihrem Werk. Um den fotografischen Blick und seine impliziten Machtstrukturen zu dekonstruieren, inszenierte VALIE EXPORT immer wieder auch Performances für die Kamera. 

Seit über 50 Jahren hat VALIE EXPORT Generationen von Künstlerinnen geprägt. In bahnbrechenden Arbeiten wie „Aktionshose: Genitalpanik“ (1969), „TAPP und TASTKINO 2“ (1968) und „Hyperbulie“ (1973) verrenkt, schneidet und deformiert sie ihren Körper, um die tiefgreifende soziale Unterdrückung von Frauen sichtbar zu machen – ein Thema, das bis heute von Bedeutung ist. 

Gauri Gill und Rajesh Vangad – für ihre Publikation „Fields of Sight“ (2023), erschienen im Verlag Edition Patrick Frey.

Durch das Verschmelzen von Fotografie und Warli-Malerei erfinden die Fotografin Gauri Gill (*1970, Indien) und der Maler Rajesh Vangad (*1975, Indien) gemeinsam die Praxis der bemalten Fotografie neu, indem sie historische und generationenübergreifende Malpraktiken in das fotografische Objekt einfügen. Ihr vielschichtiger Bild-Dialog beschäftigt sich mit der Politik der Ästhetik, mit Umweltzerstörung, Erinnerung und Dekolonisierung. 

Das Projekt nahm 2013 in Ganjad, Dahanu, einem Adivasi-Dorf, seinen Anfang. Vangad, der in dieser Gegend aufgewachsen ist, diente Gill als kundiger Führer. Gills Fotografien fingen die sich ständig verändernden Eigenschaften der Landschaften ein, vermochten jedoch deren verborgene, aber dennoch wesentliche Aspekte, die über das Sichtbare hinausgehen, nicht zu enthüllen. Vangad schloss diese Lücke, indem er Gills Bilder mit kunstvollen Zeichnungen ausgestaltete. Seine anschaulichen Geschichten schildern die vielfältigen Realitäten des Warli-Lebens in der Region und erzählen von den Hochwassern und Dürren, dem Familien- und Dorfleben über Unruhen und Terror, Geister und Mythen, Licht und Schatten. Das Ergebnis ist eine neue Art der visuellen Aufzeichnung, die multiple Wahrheiten und Wissenssysteme zusammenfasst.
In dieser enzyklopädischen Publikation hinterfragen die Künstlerin und der Künstler vorherrschende Sichtweisen. Sie untersuchen, wie Betrachter*innen einem Ort eine Bedeutung zuschreiben und inwiefern bereits der Akt des Sehens eine Mittäterschaft generiert. Durch ihre kreative und experimentelle Partnerschaft ermuntern sie das Publikum dazu, die schwer fassbaren Schichten zu ergründen, die verborgen unter der Oberfläche existieren. 

Lebohang Kganye – für ihre Ausstellung „Haufi nyana? I’ve come to take you home” am Foam, Amsterdam, Niederlande (17. Februar bis 21. Mai 2023).

Die fotografischen Arbeiten von Lebohang Kganye (*1990, Südafrika) kombinieren persönliche und kollektive Geschichten miteinander. Um die vielschichtige Geschichte Südafrikas vor, während und nach Apartheid und Kolonialismus zu erforschen, greift sie auf mündlich weitergegebene Überlieferungen und literarische Texte zurück. 

In ihren riesigen, experimentellen Installationen erschafft Kganye einen zwischen Erinnerung und Fantasie angesiedelten Raum. In diesem versammelt sie Geschichten aus ihrer eigenen Familie sowie Auszüge aus der südafrikanischen Literatur und schreibt sie zu Theaterdrehbüchern um. Silhouetten, Scherenschnitte, Marionetten, Schatten und Geister, die sie aus Materialfunden aus dem Fotoalbum sowie eigenen Kompositionen formt, (re-)inszenieren diese Storyboards und hauchen ihnen Leben ein. Die Ausstellung umfasst vier Arbeiten, die sich unterschiedlichste Medien zunutze machen – von fotografischen Montagen in „Ke Lefa Laka: Her-Story“ („It’s my inheritance: Her-Story“, 2013) bis zur Rauminstallation in „Mohlokomediwa Tora“ („Lighthouse Keeper“, 2018), von der Filmanimation in „Shadows of Re-Memory“ (2021) bis hin zum Patchwork in „Mosebetsi wa Dirithi“ („The Work of Shadows“, 2022).

Der in Sesotho, einer der offiziellen Sprachen Südafrikas, wiedergegebene Titel der Ausstellung „Haufi nyana?“ – was soviel bedeutet wie „zu nah/zu eng?“ – spiegelt den Dialog zwischen Betrachter*in und Künstlerin wider. Es geht um Vorstellungen von Heimat, Erbe und Identität, aber auch um physische und mentale Räume. Ihre geschickte Verschmelzung von Bildern und Worten erlaubt es Lebohang Kganye, die Vielschichtigkeit südafrikanischer Erfahrung zu durchdringen und dabei neue Verständniswege freizulegen, die zum Prozess der Dekolonisierung beitragen.

Hrair Sarkissian – für die Ausstellung „The Other Side of Silence“ am Bonnefantenmuseum in Maastricht, Niederlande (29. November 2022 bis 14. Mai 2023).

Die konzeptuelle Fotografie von Hrair Sarkissian (*1973, Syrien) widmet sich zutiefst persönlichen Geschichten, die zugleich die Komplexität größerer historischer und gesellschaftlicher Themen reflektieren. In „The Other Side of Silence“ werden vordergründig heitere Landschaften und ruhige städtische Umgebungen zu Schauplätzen für die Darstellung von Traumata und den ihnen zugrundeliegenden soziopolitischen Realitäten. Das Werk von Hrair Sarkissian, der als Enkel von vor dem Völkermord geflüchteten Armenier*innen in Syrien geboren und aufgewachsen ist, kann als Auslotung der verborgenen emotionalen Zwischentöne verstanden werden, die die Lebenswirklichkeiten verschiedener Diaspora-Gemeinschaften durchdringen. 

Seine künstlerische Praxis, die sich durch seine schlichten großformatigen Fotografien, Werke aus Bewegtbildern, Skulpturen, Soundarbeiten und Installationen auszeichnet, oszilliert zwischen der Erzeugung meditativer Traum- und beklemmender Todeslandschaften. In diesen Zwischenräumen wird der ursprünglich ausgeschlossenen, zum Schweigen gebrachten Stimme für einen Moment Raum gegeben. Im Rückgriff sowohl auf persönliche Erinnerungen und Beziehungen als auch auf umfangreiche Recherchearbeit, versucht Sarkissian, emotionale Erlebnisse beim Publikum heraufzubeschwören und das Bewusstsein und einen Sinn für Solidarität zu stärken.

Dieser Überblick über zwei Jahrzehnte seines Schaffens führt uns durch die öffentlichen Plätze von Aleppo, Latakia und Damaskus, die Himmel von Palmyra im modernen Syrien und die postindustriellen Landschaften Armeniens. Auch wenn er sich analoger fotografischer Verfahren bedient, spielen Hrair Sarkissians Bilder mit den ureigenen Möglichkeiten der Fotografie als Massenmedium. Sie bieten die Gelegenheit, darüber nachzudenken, was die offizielle Geschichte verdeckt, wie auch das Potenzial, diese Geschichte neu zu schreiben. 

Die Jury 2024 und ihre Begründungen:

Die diesjährige Jury setzt sich zusammen aus: Rahaab Allana, Kurator und Herausgeber, Alkazi Foundation for the Arts, New Delhi, Indien; Quentin Bajac, Direktor der Galerie Nationale du Jeu de Paume, Paris, Frankreich; Anne-Marie Beckmann, Direktorin der Deutsche Börse Photography Foundation, Frankfurt/Main, Deutschland; Laura El-Tantawy, Dokumentarfotografin; und Shoair Mavlian, Direktorin der Photographers’ Gallery, London, als stimmberechtigte Vorsitzende.

Shoair Mavlian, Direktorin der Photographers’ Gallery und stimmberechtigte Vorsitzende:

„Die Shortlist umfasst dieses Jahr Ausstellungen und Fotobücher, die in den letzten 12 Monaten in Europa kuratiert und publiziert worden sind. Sie führt eine Reihe wichtiger Themen zusammen und zeigt die ganze Bandbreite zeitgenössischer fotografischer Praxis auf. Dazu zählen feministische Erzählungen und Performances, dekolonisierende Narrative sowie die Auseinandersetzung mit aktuellen Konflikten, Vertreibungen und den Rechten indigener Bevölkerungsgruppen. Wir freuen uns, all diese Arbeiten 2024 in The Photographers’ Gallery sehen zu können.“

Anne-Marie Beckmann, Direktorin der Deutsche Börse Photography Foundation:

„Die Einreichungen für den diesjährigen Deutsche Börse Photography Foundation Prize veranschaulichen erneut das Potenzial der Fotografie, unsere Welt zu erkunden, zu erforschen und zu hinterfragen. Das Jahr 2024 markiert das 20-jährige Jubiläum der Partnerschaft der Deutschen Börse mit der Photographers‘ Gallery und zugleich das 25-jährige Bestehen der Art Collection Deutsche Börse. Ich bin nun seit 20 Jahren Teil der Jury und es ist immer wieder eine Ehre, gemeinsam mit den anderen Jurymitgliedern die Künstler*innen auszuwählen, die in die Shortlist aufgenommen werden, und zugleich eine Freude, jedes Jahr neu überrascht und bewegt zu werden von der Qualität und Tiefe der nominierten Projekte. Wir begehen unser Jubiläumsjahr im Zeichen von Kooperation, Dialog und Vielfalt – all das durchdringt auch die Arbeiten der für dieses Jahr ausgewählten, außergewöhnlichen internationalen Künstler*innen. Herzlichen Glückwunsch an sie alle!“

Über die Deutsche Börse Photography Foundation 
Die Deutsche Börse Photography Foundation ist eine gemeinnützige Stiftung mit Sitz in Frankfurt am Main, die sich dem Sammeln, Ausstellen und Fördern von zeitgenössischer Fotografie widmet. Sie verantwortet die Weiterentwicklung und Präsentation der Art Collection Deutsche Börse, die mittlerweile über 2.300 fotografische Arbeiten von rund 160 Künstler*innen aus 33 Nationen umfasst. Auf ihren Ausstellungsflächen in Eschborn bei Frankfurt am Main zeigt sie mehrere Ausstellungen pro Jahr, die öffentlich zugänglich sind. Die Unterstützung junger Künstler*innen ist der Stiftung ein besonderes Anliegen, sie fördert sie auf vielfältige Weise: mit Auszeichnungen, Stipendien oder durch die Beteiligung am Talent-Programm des Fotografiemuseum Amsterdam Foam. Des Weiteren unterstützt die Stiftung Ausstellungsprojekte internationaler Museen und Institutionen sowie den Ausbau von Plattformen für den wissenschaftlichen Dialog über das Medium Fotografie.
www.deutscheboersephotographyfoundation.org

Die Geschichte des Deutsche Börse Photography Foundation Prize
Der 1996 von der Photographers’ Gallery ins Leben gerufene Preis hat sich im Laufe von 27 Jahren zu einem der renommiertesten internationalen Kunstpreise entwickelt und in dieser Zeit die Karrieren zahlreicher Fotograf*innen begründet und gefördert. Der Preis, der früher unter dem Namen Citigroup Photography Prize bekannt war, wird seit 2005 zusammen mit der Gruppe Deutsche Börse verliehen. Im Jahr 2016 wurde er in Deutsche Börse Photography Foundation Prize umbenannt, nachdem die Stiftung, die sich der Sammlung, Ausstellung und Förderung zeitgenössischer Fotografie widmet, als gemeinnützige Organisation gegründet wurde. Der Deutsche Börse Photography Foundation Prize feiert im Jahr 2024 die 20-jährige Partnerschaft zwischen der Gruppe Deutsche Börse und der Photographers‘ Gallery. Der Gewinner des Deutsche Börse Photography Foundation Prize 2023 war Samuel Fosso für seine Ausstellung „Samuel Fosso“ am Maison Européenne de la Photographie, Paris, Frankreich. Zu den bisherigen Preisträger*innen gehören: Deana Lawson, Mohamed Bourouissa, Susan Meiselas, Luke Willis Thompson, Dana Lixenberg, Trevor Paglen, Juergen Teller, Rineke Dijkstra, Richard Billingham, John Stezaker und Adam Broomberg & Oliver Chanarin.

The Photographers’ Gallery
The Photographer’s Gallery untersucht, wie die Fotografie unsere heutige Welt verbindet, erobert und radikal verwandelt. Das Programm und die Räumlichkeiten – von den Ausstellungen, Vorträgen, Workshops und digitalen Angeboten bis zu den Galerien, dem Museumsshop und dem Café – befassen sich mit der Schönheit, Vielschichtigkeit und Zukunft der Fotografie. Unmittelbar vor der Gallery wird kostenfrei und rund um die Uhr das Beste der zeitgenössischen Fotografie im Soho Photography Quarter präsentiert.
tpg.org.uk

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