Gleich drei Krimis, darunter ein Kinderkrimi, befinden sich diesmal unter den insgesamt sechs aktuellen Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de jeweils eine Woche lang (Freitag, 19. 04.19 – Freitag, 26.04.19) zu haben sind. Zunächst geht es allerdings um eine Beerdigung und um einen elfjährigen Jungen, der von der Trauerfeier enttäuscht ist. Und das nicht nur, weil sie seiner Meinung nach nicht lustig genug ausfällt, sondern auch wegen des Streits um das Erbe. Also muss er was unternehmen. Mehr dazu in „Rache für Opi“ von Klaus Möckel, wo wir auch erfahren, wer oder was eine Kwien ist.

Der zweite Deal und der erste Krimi ist die deutsch-deutsche Gemeinschaftsarbeit „Schau nicht hin, schau nicht her“ von –ky und Steffen Mohr, erschienen im denkwürdigen Jahr 1989. – ky ist übrigens der künstlerische Tarnname für den Soziologen und Schriftsteller Horst (Otto Oskar) Bosetzky.

Um ein überraschendes Geschenk und um Geheimnisse eines Lebens geht es in „Ein altes Haus für Laura oder wie Old Shatterhand nach Potsdam kam“ von Katharina Schubert.

Der Kinderkrimi unter den Angeboten dieser Woche ist „Ramme sucht Beweise“ von Hildegard und Siegfried Schumacher, wobei Ramme eigentlich Caspar heißt. Was er nicht besonders gut findet.

Und der dritte Krimi ist zugleich der älteste unter den aktuellen Deals der Woche, stammt von Wolfgang Schreyer, heißt „Großgarage Südwest“ und hat schon einen furiosen Beginn. Hören Sie sich diesen Dialog einmal ganz genau an.

Außerdem präsentiert dieser Newsletter die informative Publikation „Die letzten und die ersten Tage. Dokumentation über Geschehnisse in Mecklenburg im 2. Weltkrieg und danach“.

Und damit zurück zu der Beerdigung, zu Matthias und zu – Cordula.

Erstmals 2012 veröffentlichte Klaus Möckel bei der EDITION digital das E-Book „Rache für Opi“: Matthias hat sich die Trauerfeier für seinen verstorbenen Opa etwas anders vorgestellt, als sie in Wirklichkeit abläuft, etwas lustiger vielleicht, weil der Verblichene ein lustiger Mensch war. Doch nachdem die Tanten und Onkel, die Cousinen und Cousins, die Dicke aus Großkleinbach und auch die Eltern ein paar Worte über die Beerdigung ausgetauscht haben, beginnen sie plötzlich über das Erbe zu streiten. Das findet der Junge gar nicht gut. Er verteidigt seinen Großvater gegenüber der gleichaltrigen Cordula, wobei es zur Rangelei kommt. Als er versehentlich ein Glas umwirft und überhaupt einiges zu Bruch geht, wird er aus dem Zimmer geschickt. Der Elfjährige fühlt sich aus gutem Grund ungerecht behandelt. Allein gelassen und traurig, nimmt er sich vor, den Opi zu rächen. Er denkt lange nach, und schließlich kommt ihm eine großartige Idee! Diese von Überraschungen geprägte, turbulente Geschichte bietet dem Leser Lachen unter Tränen. Sie spricht mit ihren Wahrheiten und Dialogen, die dem Leben abgelauscht sind, sowohl Kinder als auch Erwachsene an. Zum Einlesen hier das 1. Kapitel des Buches:

„Anfangs war alles ziemlich traurig und langweilig, wir sollten nicht herumrennen, keine laute Musik aufdrehn und nicht mal fernsehn, obwohl ein ganz spannender Film über Dinos lief. Die totale Ödnis. „Da kann man nichts machen, das ist immer so, wenn jemand begraben wird“, sagte Cordula, und in diesem Fall hatte sie recht, sie wusste Bescheid. Im vorigen Jahr waren ihre andere Oma und ihr anderer Opa kurz hintereinander gestorben. „Das ist immer so, aber später kann’s dann ganz munter werden“, wiederholte Cordula, „und manchmal vielleicht sogar lustig. Bei Opa war’s zwar ziemlich müde, weil Oma noch lebte und alle sie trösten mussten, die hat den ganzen Tag geweint. Da gab’s auch nichts zu erben und zum Trinken nur Kaffee, aber als sie dann selber krank wurde, sodass ihr niemand mehr helfen konnte, ich meine bei ihrem Tod, war’s schon anders. Da haben die Leute sich nämlich aufs Testament gespitzt. Erst hat Mama zwar ein bisschen geheult, Papa hat ein finsteres Gesicht gemacht, und auch die übrigen Gäste saßen mit Trauermienen herum, wie sich das gehört. Doch als Tante Lu die Hähnchenkeulen brachte, die Chips und den Schnaps, haben sie alle mächtig reingehaun, einen zur Brust genommen und sogar Witze erzählt. Ich hab bloß nicht richtig zugehört, weil ich mit Omas Katze beschäftigt war, so einer dicken, schwarzen. Es war niemand anderes zum Spielen da, das weiß ich noch.“

„Später gefällt’s dir vielleicht“, betonte Cordula nochmals, die mächtig herumquasselt, aber in diesen Dingen Erfahrung hatte, und so haben wir halt nebeneinander auf dem Sofa gesessen, ein bisschen geredet und abgewartet. Vorher waren wir noch drüben im kleinen Zimmer gewesen, hatten uns Bilder angesehn. Aus Zeitschriften und Büchern, nur kamen wir nicht miteinander klar. Ich interessiere mich für Autos, Segelboote und Flugzeuge, auch für Sport, sie aber für die Klamotten der Leute. Vor allem für den Fummel von Frauen. Einmal war eine Königin abgebildet, eine richtige, da flippte sie fast aus. Obwohl die gar nichts Besonderes anhatte, einfach ein blaues Kleid und einen komischen Hut auf dem Kopf, ich hätte beinahe gelacht. „Das ist die Kwien“, sagte Cordula, „die sieht damit sehr elegant aus.“

„Kwien? Heißt sie so? Ich denke, sie ist eine Königin?“

„Na klar ist sie eine Königin, die englische, habt ihr denn kein Englisch in der Schule?“

Ich murmelte was in der Art, dass wir gerade erst mit Englisch angefangen hätten, und das stimmte auch, denn Cordula ist zwar elf wie ich, aber trotzdem ein halbes Jahr älter und dadurch in einer höheren Klasse. Außerdem scheint es bei ihnen an der Schule insgesamt besser zu klappen. Bei uns herrscht seit der Wende ein ziemliches Chaos, sie können sich nicht einig werden, was für Bücher wir für den Unterricht nehmen sollen, und hast du dich heute an einen Lehrer gewöhnt, ist morgen schon ein anderer da. Zoff mit den größeren Schülern gibt’s gleichfalls. Deshalb wusste ich das mit der Kwien nicht, und mir war’s auch nicht so wichtig.

„Englisch ist mein Lieblingsfach“, erklärte sie noch, „yes, Mister.“

Ich kam mir nicht wie ein Mister vor, schon gar nicht, als wir weiterblätterten und auf einmal ein Turner abgebildet war, der genau wie Opa aussah, bloß viel jünger. Er hatte die gleichen lustigen Augen, die gleiche dicke Nase und wie er eine tiefe Querfalte auf der Stirn. Allerdings bedeutend mehr Haare auf dem Kopf und schmalere Hände. Das fiel mir auf, weil er die Arme nach vorn streckte. Trotzdem wurde mir flau, als ich ihn so lebendig sah.

„Wie ulkig hockt denn der da“, sagte Cordula.

„Der hockt nicht ulkig da, er hat gerade einen Abgang vom Reck gemacht, das sieht man doch.“

„Und weshalb zieht er die Beine an?“

„Weil er sich abfedern muss, damit er in den Stand kommt. Er ist noch halb im Flug, erreicht in dieser Sekunde den Boden.“

„In den Stand?“ Sie kicherte.

„Ja, das gehört doch zur Übung dazu. Schließlich will er eine gute Wertung haben.“

Sie kicherte weiter, und ich merkte, dass sie keine Ahnung hatte. Das brauchte sie auch nicht, sie wusste dafür ja was anderes, zum Beispiel das mit der Kwien. Aber ihr Kichern war albern, vor allem weil’s eigentlich um Opi ging. Na ja, meine Cousine Cordula wohnte mit ihren Eltern weiter weg, oben an der Ostsee, deshalb war sie nicht so oft hier gewesen. Sie hatte Opi nicht halb so gut gekannt wie ich.

Dann hatten wir die Zeitschriften satt, und weil die Erwachsenen vom Friedhof eintrudelten, gingen wir ins Wohnzimmer zurück, setzten uns aufs Sofa. Damit wir nicht im Weg standen.

Außerdem wollte Mama das so, weil wir dann von allen begrüßt werden konnten. Mir passte das gar nicht, aber Cordula schien es zu gefallen, sie saß brav da und machte auf Prinzesschen. Sie strich dauernd an ihrem Kleid herum, warf jeden Augenblick die langen blonden Haare nach hinten. Ich hatte Lust, sie daran zu ziehen, weil sie das absolut nicht mochte, ganz runde Augen kriegte und genau wie Tante Eva, ihre Mutter, sagte: „Lass das, Matthias!“ Aber ich hab mich nicht getraut, es war zu feierlich. Das lange weiße Tafeltuch war über die beiden zusammengestellten Tische gelegt, und die große Kerze brannte mitten am Tag. Dazu noch die Stehlampe in der Ecke. Opas Foto unter der geschnitzten Uhr, die man so laut ticken hörte, wenn es still im Raum war, hatte einen schwarzen Rahmen bekommen, von Frau Stillner, glaub ich, und alle waren furchtbar ernst. Bloß die Hände rieben sie sich, die eine Cousine von Mama, sie war aus Leipzig, hauchte sogar hinein. Onkel Fred aber, Cordulas Vater, schlug die Füße gegeneinander, weil es draußen so kalt gewesen war.

„Ich hab dir doch gesagt, du sollst die hohen Schuhe anziehen und ein paar andere Strümpfe“, sagte Tante Eva, „aber du weißt es ja immer besser.“

„Und du? Hättest du auf dem Friedhof etwa nicht die dicke Jacke gebrauchen können, wie ich’s dir geraten habe?“

„Die Jacke ist viel zu hell“, erwiderte die Tante, „was hätten die Leute gedacht?“

„Sonst fragst du doch auch nicht danach, was die Leute denken“, sagte er wieder.

„Bei solchen Angelegenheiten schon. Im Gegensatz zu dir, wie man merkt.“

„Streitet euch nicht, heute, wo wir Vater unter die Erde gebracht haben“, schaltete sich da Mama ein und sah die beiden vorwurfsvoll an. Onkel Fred zuckte die Achseln, auch Tante Eva verzog den Mund, als wollte sie widersprechen. Doch sie ließ es lieber sein, was sonst gar nicht ihre Art war, sodass ein Schweigen eintrat.

Dann trafen noch weitere Trauergäste ein, die mit zur Beerdigung gewesen waren. Papas Bruder aus Hannover mit seiner Frau, eine zweite Cousine von Mama, ein alter Freund von Opi – das behauptete er wenigstens -, insgesamt mehr als ein Dutzend Leute. Ich kannte sie gar nicht alle, zwei oder drei stammten aus einem Ort, der noch weiter weg lag als Leipzig, Rostock oder Hannover und Großkleinbach hieß. Oder so ähnlich, jedenfalls verkorkst. Auf der Landkarte war er auch nicht zu finden, das habe ich später überprüft. Sie begrüßten Cordula und mich, als ob wir uns jeden Tag sehen würden: „He Mädchen, he Junge, wie geht’s, was macht die Schule, wie waren die Winterferien“, sie klopften uns auf die Schultern, und manche knutschten an uns herum. Manche von den Frauen, meine ich. Bei Cordula mochte das ja noch angehn, Mädchen sind das gewöhnt, die knutschen zurück, machen Zucker-und-Zimt-Gesichter. Ich aber kann das nicht leiden. Einer Dicken aus diesem Kleingroßbach oder so ähnlich, die mich an ihren Wabbelbauch drückte und überhaupt nicht wieder loslassen wollte, hab ich auf den Fuß getreten. Nicht mit aller Kraft, aber doch so, dass sie’s merkte. Sie ist mit einem „Au!“ zurückgefahren, und ich hab getan, als war’s aus Versehen passiert. Ich nehme allerdings an, dass sie das nicht geglaubt hat.

Jedenfalls kamen alle diese Leute herein und begrüßten uns, denn sie waren irgendwann in der Nacht oder am Morgen angereist und wir ja als Einzige nicht mit auf dem Friedhof gewesen. „Das muss nicht sein, wir sind auch so genug Personen“, hatte Mama gesagt, „du bleibst hier bei Frau Stillner, da bist du besser aufgehoben.“

Als Tante Eva das hörte, schloss sie sich dem gleich an. „Du hast recht, Monika, das Kücken ist sowieso viel zu sensibel, weshalb die Kinder damit belasten, es reicht, wenn wir uns die Füße erfrieren.“

Da brauchte das Kücken Cordula – bei dieser Bezeichnung wurde sogar sie sauer – gleichfalls nicht mit auf den Friedhof. Was Vor- und Nachteile für mich hatte, ich hab es schon erwähnt. Einerseits war ich nicht allein mit der alten Nachbarsfrau, andererseits konnte man mit Cordula eben nur wenig anfangen. Zumal das Wetter wirklich mies war. Wind und ein eisiger Regen, im Hof nichts als Pfützen, und vorm Haus, wo seit einem halben Jahr irgendwelche Rohre verlegt wurden, der reinste Morast.

Zum Glück blieb uns noch der Gameboy, aber da jeder von uns mit dem Kasten spielen wollte und keiner zugucken, war’s auch nicht die reine Freude. Mama wäre schon wegen Tante Eva unzufrieden gewesen, wenn ich Cordula nicht rangelassen hätte, nur stellte die sich echt blöde an. Wahrscheinlich hätte sie mir das Ding auf Dauer kaputtgemacht, und das konnte ich nicht riskieren. Deshalb tat ich so, als funktioniere es nicht mehr richtig, und packte es in meine Reisetasche zurück. Sie merkte nichts von dem Schwindel, war sogar ein bisschen kleinlaut, weil sie es zuletzt in der Hand gehabt hatte.

Da sahen wir uns dann also die Bilder in den Zeitschriften an, was ich schon erzählt habe, und halfen Frau Stillner, die hauptsächlich herübergekommen war, um den Leichenschmaus vorzubereiten. Na ja, was so helfen heißt, vor allem haben wir genascht. Wobei dieses „Leichenschmaus“ ein schlimmes Wort ist, besonders wenn man an Opi denkt, der im vorigen Jahr noch im Garten Fußball mit mir gespielt und mir die Armbrust erklärt hat. Es ist, als wollte man ihn aufessen. Aber Frau Stillner, die sonst mächtig in Ordnung ist, sprach immer nur von „Leichenschmaus“, davon war sie einfach nicht abzubringen.“

Das folgende deutsch-deutsche Buch von -ky (BRD) und Steffen Mohr (DDR) erschien erstmals 1989 und zwar damals gleichzeitig im Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbek bei Hamburg und im Mitteldeutschen Verlag Halle als erster deutsch-deutscher Kriminalroman – „Schau nicht hin, schau nicht her“: Dieser Roman war ein Ereignis: Der BRD-Autor -ky und der DDR-Autor Steffen Mohr haben sich einen spannenden Kriminalfall ausgedacht, in den Westberliner und DDR-Bürger verwickelt sind, -ky schildert die Seite der Berliner, Mohr die Ermittlungsarbeit in der DDR. Anschaulicher kann man die Gegensätze in der damaligen deutschen Wirklichkeit nicht geboten bekommen. Eigentlich ist Günther Goyatz ein stahlharter Bauunternehmer, doch bei seinen anstehenden Investitionen verlässt er sich nicht nur auf objektive Finanzdaten, sondern er geht auch zu einer Astrologin, um sich beraten zu lassen. Die warnt ihn vor einer drohenden Katastrophe. Doch die Familie will die Geburtstagsfeier des berühmten Onkels in der DDR nicht versäumen. Also fährt man auch hin. Alles verläuft höchst harmonisch. Doch dann bricht das Unheil über sie herein … Hier das dritte Kapitel dieser spannenden deutsch-deutschen Gemeinschaftsarbeit, der die beiden Autoren noch ein aufschlussreiches Bekenntnis vorangestellt haben: Aus Furcht vor Verleumdungsanzeigen und Gespenstererscheinungen versichern die Autoren, dass jede Namensgleichheit mit lebenden und toten Personen unbeabsichtigt ist und auf reinem Zufall beruht. Und jetzt das dritte Kapitel:

„Arnold Roddahns Grundstück lag auf einem länglichen Sandbuckel, der auch die vom Schwielowsee heraufkommende Holperstraße trug, bestand in seinem hinteren Teil aus einer tiefen, baumbestandenen Rinne, einer Schlucht schon fast, hinter der die Fercher Berge aufragten, kaum an die siebzig Meter hoch, doch vom Charakter her schon ein wenig Weserbergland oder Elm, überraschend jedenfalls an dieser Stelle südlich Potsdams und Berlins.

Im ebenen Teil, zwischen Holzhaus und Zaun, war liebevoll die Kaffeetafel gedeckt, gestückelt aus mehreren Tischen, Sägeböcken, Brettern und Bohlen, dies alles von langen weißen Tischtüchern kaschiert, Erbstücken aus den Tagen vor der Befreiung, und mit so vielen Kuchen und Torten versehen, dass man Tante Manda fragte, wie denn dies alles und noch dazu zur Ferienzeit, und sie auf Stani verwies, Faktotum aus Onkel Arnies ehemals halbstaatlichem Betrieb, vor Jahren mit seiner deutschstämmigen Frau aus der VR Polen in die DDR gekommen und nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in der „Autonomen Bergrepublik Suhl“ in Leipzig sesshaft geworden. Der meinte mit verschmitztem Lächeln, wenn man nur mit einem grünen oder braunen Schein in einer anderen Währung winkte, „holten die in den Geschäften schon alles hinten raus. Da gibt’s dann für die Damen nur noch eine Frage: Forum geht’s ?“ Und er lachte herzlich über die volkstümlich-witzige Anspielung auf die sogenannten Forum-Schecks, die hierzulande als Westgeldersatz kursierten. Über Deutsche Mark der Be-Är-De konnten die Roddahns in hinreichendem Maße verfügen, denn einige von Onkel Arnies Patenten, Regeltechnik und dergleichen, hatten auch in der BRD ihre Nehmer gefunden.

Kaum vom Mittagessen im Seeblick zurück, hatten sie schon mit Kaffee und Kuchen anfangen müssen; aus einem ganz einfachen Grunde. „Liebe Anverwandte und Freunde“, hatte der verdiente Erfinder beim Eintritt in sein Datschenreich gesagt, „nach Lage der Dinge müssen wir heute leider in zwei Schichten feiern, denn ab 17 Uhr erwarten wir meine Leipziger Freunde und solche aus der Gegend hier, darunter leitende Ärzte, Ingenieure, Offiziere und dergleichen, denen private Westkontakte nicht gestattet sind.“ Und er gedachte an dieser Stelle seiner Ansprache auch seines Schwagers Paulchen, wobei die Eingeweihten feierlich grienten, musste der arme Löschmeister der volkseigenen Feuerwehr doch seinen Vorgesetzten stets Bericht erstatten, selbst wenn ihm ein Westverwandter auch nur telefonisch einen guten Rutsch ins neue Jahr gewünscht hatte. „So peinlich mir das ist, aber ich muss euch deshalb um pünktliches Aufbrechen bitten.“

Die Kommentare, die sich daran anschlossen, waren im Tenor alle gleich, doch dem Geburtstagskind, das in all den Jahren Grandseigneur geblieben war, fast so englisch wirkte wie Sir Harold Macmillan, konservativer Prime Minister früherer Jahre, ein „feiner Mensch“, wie seine Freunde sagten, konnte dies ja schwerlich angelastet werden, höchstens insofern, wie auch Günther Goyatz mehrmals betonte, dass er, Arnold, seinen Frieden mit der DDR längst gemacht und sich seinen Betrieb mit ihr geteilt hatte.

Es wurde viel getrunken und geredet, und die meisten Sätze begannen mit den Worten „Bei uns, da …“ Folgten Vergleiche von Preisen und Chancen, dieses und jenes ohne Mühe zu kaufen, aber auch Witze über die Funktionäre und die Macher beider Seiten und die Aufrechnung von Plus- und Minusseiten beider deutscher Staaten.

Inge Goyatz fand den Warenmangel schlimm, das Schlangestehen, und das preußisch-graue Einerlei, das die meisten Dörfer und Städtchen rings um die Hauptstadt boten, während Julian auf die Unmöglichkeit abstellte, als gewöhnlicher DDR-Bürger dorthin zu reisen, wohin man gerade wollte.

Arnold Roddahn meinte, dass das wohl alles mehrfach aufgewogen werde durch dreierlei Fakten. „Zum einen gibt es keine Arbeitslosigkeit bei uns, zum zweiten kein Verbrechen wie bei euch, und drittens haben wir die alten Nazis ausgerottet mit all ihren Wurzeln.“

„Und warum wollen dann so viele in den Westen rüber?“, fragte Goyatz.

Nico lachte. „Bei mir isses umjekehrt jewesen: Wenn wa nicht über die Mauer rüba wärn, hätten uns die Bullen plattjemacht, unsere!“ Und er berichtete lachend, wie sie letzten Freitagmorgen zu hundertachtzig über die Mauer gesetzt, in die DDR geflüchtet waren, alsbald dann in Barkas-Bussen zum Grenzbahnhof Friedrichstraße kutschiert, mit schönsten Grüßen.

Gelächter allenthalben, und Günther Goyatz meinte, ein längerer Aufenthalt „dieser Chaoten hier in der DDR“ wäre äußerst nützlich gewesen, denn da hätten sie vielleicht einmal Disziplin und Ordnung vermittelt bekommen, was nun er als großen Pluspunkt der DDR-Deutschen betrachte.

Nina hatte dieses Gerede der Alten lange satt und sich mit Onkel Arnies Fontanebüchern in die Schlucht geflüchtet, las dort im Bande Havelland das Schwielowsee-Kapitel.

der Schwilow (ohne e beim Meister) ist breit, behaglich, sonnig und hat die Gemütlichkeit aller breit angelegten Naturen

Kein Wunder, dachte sie, dass sich ihr Onkel seine Ufer als Altersruhesitz so sehr gewünscht hatte. Doch …

der Schwilow ist gutmütig, so sagten wir; aber wie alle gutmütigen Naturen kann er heftig werden, plötzlich, beinahe unmotiviert, und dann ist er unberechenbar.

Sie zuckte zusammen: Ihr Vater und die Prophezeiung.

Quatsch!

Caputh zu, dort liegen die Schiffe, die der Schwilow hinabgerissen; was er hat, das hält er fest; er gibt sie schwer wieder heraus.

Bloß keine Kahnfahrt mehr nachher!

Da stand Nico hinter ihr. „Na, tuste wat für deine Bildung?“

„Siehste ja!“

Die beiden hatten sich heute beim Essen am See zum ersten Mal gesehen, denn Nina war über ihre Mutter beziehungsweise Großmutter mit den Roddahns verwandt, ihre Oma mütterlicherseits war Tante Mandas Schwester, während er den zahllosen Großneffen des Erfinder-Onkels zuzurechnen war. Und wann trifft man sich da schon? Erst die große Jubelfeier hatte für ihr Kennenlernen gesorgt, und es hatte zwar nicht „zoom“ gemacht, wumm, sie nicht tierisch angetörnt, sie nicht echt aufeinander abfahren lassen, doch aus den jeweils unterschiedlichsten Gründen heraus saßen und standen sie hin und wieder nebeneinander, um miteinander zu reden, sich über dies und jenes auszutauschen.

Nico mochte ihre katzenhafte Schläfrigkeit, diese weiche, blasse Körperfülle, dieses mehr Hauchen als Sprechen, ein bisschen wie die Milster, wenn sie in „Cats“ Memories sang, wollte schon mal checken, ob bei Nina bettmäßig nicht was anzuleiern war („Du, ich hab echt Bock auf dich!“), obwohl ihr Alter ja nun der letzte Kotzbrocken war, der mit seiner abgefuckten Masche, die Leute auszubeuten, Leiharbeiter und so weiter, für einen Tag vom Arbeitslosen-Strich geholt. Aber immerhin: Man hatte ’ne Adresse, wenn man mal ganz dringend Kohle brauchte. Also: die Leute warmhalten; connections haben, das war alles.

Nina träumte, wenn sie auf ihrem „Torro“ über die Lübarser Wiesen sprengte, super dieses Polo-Pferd aus Argentinien, von einem wilden Leben, von tausend Rollen zugleich und nacheinander, überall gewesen zu sein und alles einmal gemacht zu haben, die eine ebenso zu sein wie die andere, Ballkönigin im „Palais am Funkturm“, aber auch drogenhohle Fixerin mit Strichkarriere, mit Jetset-Männern, siehe Sylt und Saint Tropez, heute was zu haben, morgen aber Typen wie Nico zu lieben; hager-leptosom, fast spillrig, Gauloises-Raucher und lässig wie ein Film-Franzose, frei von allem und für alles, keinem Menschen hörig. Sie sah aber den Kontakt zu Nico vor allem unter einem sehr pragmatischen Aspekt, dachte sich, ihn vielleicht überreden zu können, in ihre Schule zu kommen, wenn sie im Oberstufen-Kurs ihr großes Referat zu halten hatte: „Autonome in Kreuzberg – Alltag, Orientierungen und Lebensentwürfe“, denn stets entlockte es den Lehrern höchste Noten, wenn es ihren Gymnasiasten gelang, dazu Leute aus den Scharen der Berliner Minderheiten, Randgruppen, Subkulturen in die Schule zu schleppen, „Betroffene“ zum Anfassen.

„Was machsten so … ?“ Sie hatte den Fontaneband zur Seite gelegt und sah ihren exotischen Verwandten an.

Doch Nico konnte nicht sogleich Auskunft geben, denn oben an der Tafel war inzwischen Sekt eingeschenkt worden, und der deutsch-deutsche Chor ließ sein „Hoch soll er leben“ weit übern Schwielowsee erschallen.“

Erstmals 1995 druckte der tabu-Verlag München den Roman „Ein altes Haus für Laura oder wie Old Shatterhand nach Potsdam kam“ von Katharina Schubert: Laura erbt von einer unbekannten Urgroßtante ein altes Haus in der Eifel. Dass sie dafür eine Ferienreise an den französischen Atlantik opfern muss, passt ihr gar nicht. Doch dann lernt sie Oma Therese kennen – und den Nachbarjungen Benji, dessen Vater Maler ist und Winnetou heißt. Fasziniert hört sie Oma Thereses Geschichten zu und streift mit Benji durch die Gegend. Und sie forscht nach Tante Josefa, die fast ihr ganzes Leben hier verbracht hat. Wer war Josefa wirklich? Im vierten Kapitel des Buches erfahren wir einiges über Josefa und ihre Liebe zu Katzen und über preußische Erziehung:

„Laura kniet vor der Katzenkiste und sieht zu, wie die Jungen an Paulinchens Zitzen hängen und saugen. Mit ihren kleinen Pfoten kneten sie dabei den Bauch der Mutter. Jetzt erst entdeckt sie, dass man die drei kleinen Schwarzen gut voneinander unterscheiden kann. Eines hat weiße Pfötchen, das zweite einen weißen Fleck am Auge, das dritte einen am Hals. Sie erzählt Oma Therese, die am Herd steht und kocht, wie gern sie eine Katze hätte. „Aber Mama ist dagegen. Sie sagt, Tiere machen so viel Arbeit. In Wirklichkeit hat sie aber Angst vor Katzen.“

Oma Therese wundert sich, wie jemand Angst vor Katzen haben kann. Auf dem Land ersparen die Katzen einem viel Arbeit. Sie fangen die Mäuse in Stall, Scheune und Garten. Und früher wäre man auch im Haus ohne Katzen seines Lebens nicht froh geworden vor lauter Mäusen. Die Dächer der Häuser waren durchlässig, die Mauern brüchig. Die Mäuse kamen durch die vielen Ritzen rein. Alle Lebensmittel wurden offen im Haus gelagert. Es gab weder Kühlschränke noch Kühltruhen.

„Wenn wir da keine Katzen gehabt hätten, du liebes bisschen.“ Sie schüttelt den Kopf.

Dann fällt ihr eine Geschichte ein. „Josefa hatte einen kleinen geschnitzten Holzwagen, mit dem sie gern spielte. Ursprünglich gehörte auch ein Holzpferd dazu, aber das hatte sie verbummelt. Also fingen wir fünf oder sechs Mäuse, die durch die Küche liefen, banden sie vor Josefas Holzwägelchen und ließen sie laufen.“

„Mama würde in Ohnmacht fallen, wenn ihr ein Mäusegespann in der Küche begegnete“, sagt Laura traurig.

„Unsere Mütter nicht. Aber die Mäuse haben ziemlich bald vor Schreck einen Herzschlag bekommen.“ Oma Therese fasst sich an die Stirn. „Mein Gott, auf was für Ideen man als Kind kommt.“

Dann bittet sie Laura, den Tisch zu decken, und nimmt den Topf vom Herd. Laura holt Teller und Löffel aus dem Schrank. Dabei fällt ihr Blick wieder auf das Foto von Josefa und Therese. Und sie möchte wissen, ob Oma Therese auch ein Foto von sich und Josefa hat, als sie beide noch zur Schule gingen.

„Wo denkst du hin? Wir wussten lange nicht mal, was Fotos sind, geschweige denn, wie sie gemacht werden.“ Oma Therese tut die Suppe auf, setzt sich, faltet ihre Hände und beginnt zu beten: „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast, Amen!“ Sie bekreuzigt sich, wünscht Laura „guten Appetit“ und beginnt ihre Suppe zu löffeln. Beim Essen erzählt sie dem Mädchen dann, wie sie zum ersten Mal einen Fotografen gesehen hat.

Josefa und Therese waren in der dritten Klasse. Die Schule lag im Nachbarort, jeden Tag mussten sie vierzig Minuten hin- und wieder zurücklaufen. Im Winter, wenn Schnee lag, dauerte es noch länger. Um sieben Uhr morgens begann die heilige Messe, um acht Uhr der Unterricht. Sechzig Schüler der Klassen 1-8 drängelten sich damals in einem engen Raum.

Es gab nur einen Lehrer für alle, Herrn Kaufmann. Der war sehr streng. Wer seine Hausaufgaben vergessen hatte oder im Unterricht schwatzte, der musste die Hände ausstrecken und bekam Hiebe mit dem Rohrstock auf die Handflächen.

„Was bekam man, Hiebe auf die Hände?“ Laura lässt den Löffel fallen vor Empörung. „Das tut doch weh.“

„Und wie.“ Oma Therese nickt und erzählt, dass es damals üblich war, Kinder mit Schlägen zu bestrafen. Die Eltern taten es, der Lehrer und der Pfarrer auch.

„Der Pfarrer auch! Ich hab’ immer geglaubt, mit dem muss man beten.“

Oma Therese seufzt. „So war es auch gedacht. Aber wenn wir etwas nicht wussten oder Unfug angestellt hatten, setzte es Hiebe. Nicht zu wenig.“

Laura bedauert Oma Therese und ist froh, damals noch nicht gelebt zu haben.

Es gab einen Schultag, auf den sich Josefa, Therese und alle anderen Kinder besonders freuten. Das war der 27. Januar, Kaiser Wilhelms Geburtstag. Nach dem lieben Gott im Himmel schien der Kaiser das wichtigste Wesen auf Erden zu sein. Und sein Geburtstag der bedeutendste Tag im Jahr. Allerdings weniger wegen Kaiser Wilhelm, als vielmehr wegen der Feier und der dazu gehörenden Vorbereitungen.

Von Neujahr an freuten sich die Kinder auf diesen Tag. Sie sammelten Tannengrün im Wald und schmückten damit den kargen Klassenraum. Jeder überlegte, welche Geschichte oder welches Gedicht er zu Ehren des Kaisers an diesem Tag aufsagen würde. Dann bekam er nämlich vom Lehrer einen Wecken. Und die drei schönsten Beiträge wurden mit einem zweiten Wecken prämiert. Süßigkeiten waren damals etwas Seltenes für die Kinder. So gaben sie sich alle Mühe, an diesem Tag die Besten zu sein. Jungen wie Mädchen.

„Wir sind damals sehr streng erzogen worden, richtig preußisch. Obwohl Preußen weit weg war. Aber das musst du ja kennen.“ Oma Therese lacht. „Schließlich kam Kaiser Wilhelm ja aus Potsdam.“

Exerzieren für die Jungen stand ebenso auf dem Unterrichtsplan wie Handarbeiten für die Mädchen. Für Lehrer Kaufmann waren die militärischen Übungen genauso wichtig wie Rechnen und Schreiben. Der Kaiser sollte tapferen und gehorsamen Soldatennachwuchs bekommen. Er teilte die Jungen in zwei Gruppen auf. Anstelle von Bajonetten erhielten sie lange Stöcke. Zunächst übten die Jungen marschieren und durch den Dreck robben. Dann zogen sie ins „Manöver“.

Die guten Schüler waren die deutschen Truppen, die anderen die Feinde. Da Lehrer Kaufmann „Oberbefehlshaber“ beider Parteien war, gewannen immer die deutschen Soldaten. Die Mädchen mussten in dieser Zeit stricken oder nähen. Sie sollten später einmal gute Hausfrauen und Mütter werden und dem Kaiser Söhne schenken.

Das Gedicht „Der Kaiser ist ein lieber Mann“ sagten fast alle zu seinem Geburtstag auf. Doch das genügte Josefa und Therese nicht. Sie wollten den Wettbewerb unbedingt gewinnen. Josefa nahm sich vor, zu erzählen, dass sie dem Kaiser acht Söhne und zwei Töchter gebären wollte. Mit ihrer Hilfe sollte er immer genug Soldaten für das deutsche Vaterland haben.

Therese war dagegen. Es schien ihr etwas übertrieben. Doch Josefa meinte, dass der Kaiser dies ja nicht wisse. „Aber der Herrgott weiß es!“, fürchtete Therese.

Josefa beruhigte die Freundin. Schließlich würde Gott den Kaiser erst im Himmel treffen. Und bis dahin habe er die Mädchen wahrscheinlich vergessen. Sie ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen.

Einen Tag vor Kaisers Geburtstag kam der Lehrer und sagte feierlich: „Denkt dran, Kinder, zieht euch morgen schön an. Wir feiern Kaisers Geburtstag. Und wir werden einen Gast haben, einen Fotografen, der ein Bild von euch machen wird.“

Therese hatte Angst. Sie wusste nicht, was ein Fotograf ist, und dachte, der käme, um zu prüfen, ob die Kinder es ehrlich mit ihren Versprechungen meinten. Warum sollte er sonst ausgerechnet zu Kaisers Geburtstag erscheinen?

Josefa war da viel mutiger. „Wie soll er wissen, was wir denken, er ist nicht der liebe Gott“, sagte sie selbstbewusst.

Am nächsten Morgen kamen die Kinder in den geschmückten Klassenraum, standen still und sagten gemeinsam mit dem Lehrer das Gedicht auf: „Der Kaiser ist ein lieber Mann.“ Dann ließen sie ihn mit einem dreifachen Hurra hochleben.

Danach führte der Lehrer alle Schüler hinaus auf den Hof. Dort mussten sie sich in der Kälte aufstellen. Ein fremder Mann mit einem merkwürdigen Kasten auf Holzbeinen bat sie, stillzustehen. Dann verschwand er unter einem großen schwarzen Tuch, kam wieder hervor, steckte etwas in den Kasten, versteckte sich wieder unter dem Tuch. Als er erneut herauskam, stellte er sich neben den Kasten, nahm eine Schnur in die Hand und sagte streng: „Achtung! Stillstehen! .Alles hierher gucken!“ Er zeigte auf den Apparat. „Hier kommt das Vögelchen raus.“ Dann gab’s ein komisches Geräusch. Es blitzte und qualmte. „Das war’s!“, sagte der Mann, schlug das schwarze Tuch um den Kasten, nahm ihn auf die Schulter und verschwand.

Ein paar Wochen später sahen die Kinder sich dann zum ersten Mal auf einem Foto. Das war eine Sensation. „Dann wusste ich, was ein Fotograf ist.“ Oma Therese lacht.

„Und wer gewann den zweiten Wecken?“, will Laura wissen.

„Ich nicht. Mir war schlecht vor Angst. Ich glaubte fest, der Mann könne durch seinen Kasten in uns hineingucken und die geheimsten Gedanken erkennen. Also stotterte ich irgendetwas zum Wohle des Kaisers und bekam nur einen Wecken.“

Josefa gewann den zweiten. Oma Therese weiß nicht mehr genau, wie viele Söhne die Freundin dem Kaiser schenken und nach ihm benennen wollte. Sie hatte eine blühende Fantasie und kein schlechtes Gewissen. Der Lehrer stellte Josefa der Klasse als leuchtendes Beispiel hin und wollte dem Kaiser von seiner treuen Untertanin und ihren guten Wünschen schreiben. Josefa teilte den zweiten Wecken auf dem Heimweg mit Therese. „Hast du das Foto noch?“, fragt Laura. „Ich glaube nicht.“ Aber Oma Therese verspricht, noch mal nachzusehen.“

Erstmals 1965 erschien im Kinderbuchverlag Berlin „Ramme sucht Beweise“ von Hildegard und Siegfried Schumacher: In der Gärtnerei war ein Kirschendieb und hat auf seiner Flucht drei Scheiben zerschlagen. Als Gärtner Barbel Rammes verlorengegangenes Mathematikheft als Beweisstück vorlegt, ist allen klar, dass Ramme nicht nur ein Dieb sondern auch ein großer Feigling ist. Denn Ramme leugnet die Tat. Nur wenige Kinder und seine Mutter vertrauen ihm. Um seine Unschuld zu beweisen, muss Ramme den wahren Täter suchen. Nach und nach finden sich weitere Beweisstücke: Fingerabdrücke und ein aus einer Jacke herausgerissener Fetzen. Ramme und seine noch verbliebenen Freunde Eva und Schnitz erweisen sich als Meisterdetektive. Es ist wie verhext. Sie haben immer wieder neue Ideen, wie man den Täter überführen kann, doch alles scheint vergebens. Bis Ramme an seinem 13. Geburtstag ein ganz besonderes Geschenk erhält. Ein spannender Kinderkrimi für Kinder ab 11 Jahre. Aber bevor der Kinderkrimi so richtig losgeht, lernen wir am Anfang des Buches erstmals „Ramme“ kennen – zumindest ein bisschen:

Fressen Haie Champignons?

Die Sonne hat mich wach gekitzelt. Mein Bett steht so, dass sie mich jeden Morgen findet. Ich blinzle zur Uhr.

Sie stammt von Muttis Großmutter und sieht aus wie ein Schweizerhäuschen. Oben in der Mitte ist eine Klappe, hinter der ein rot-blau-weißer Kuckuck sitzt. Er schnarrt die halben und die vollen Stunden aus. Ich fresse einen Besen, wenn der Vogel ein Kuckuck ist. Der Uhrmacher hat bestimmt nie einen gesehen. Der bunte Schreihals stößt die Tür von innen auf und krächzt heiser: „Kuckuck!“ Es ist erst halb sechs.

Auf dem Hof dröhnt das Motorrad auf. Zuviel Gas. Jetzt knattert Vati mit seiner RT auf die Genossenschaftsfelder. Sie kennen ihren Brigadier genauso wie die Traktoren und Kombines.

Im Stall setzt das Schweinekonzert ein. Mariechens Brummelbass muht die Begleitung. Mutti klappert mit den Futtereimern. Soll ich aufstehen und ihr helfen? Doch, wenn ich die Beine anziehe, steinschwer hängt’s in den Waden. Vorsichtig hebe ich den linken Arm, er plumpst aufs Deckbett zurück. Meine Glieder brauchen noch ein wenig Ruhe. Bin ich erst an der Ostsee, muss Mutti auch allein füttern.

Herr Frisch, unser Klassenlehrer, geht mit uns auf Ferienfahrt. Auf einer Insel werden wir zelten. Wir freuen uns mächtig darauf.

Ich liege da und gucke auf die kleinen Blumen der Tapete. Weil sie aber gar nichts mit einer Insel zu tun haben, schließe ich die Augen. Eine Insel. Ringsherum Wasser. Wir können überhaupt kein Land sehen. Ob wohl hohe Wellen sind? Höhere als auf unserem Waldsee bestimmt.

Am Nachmittag will Peter mit mir angeln gehen, aber Eva habe ich versprochen, Champignons suchen zu helfen. Ich kenne viele Stellen auf den Koppeln zwischen Krähenbergen und Mückenbruch. Ich kenne sie besser als Schnitz, der in der Schule immer so dämlich zu Eva hinstarrt. Champignons hole ich mit ihr. Zum Schluss schütte ich ihr meine in den Korb, so ganz einfach: Hier, Eva, meine schenk ich dir. Peter gebe ich die Kahnschlüssel und erzähle ihm, dass ich zu Hause helfen muss.

Bin ich gemein zu Peter? Er ist ein prima Kumpel. Aus Mädchen macht er sich nichts. Er liebt grobe Sachen: boxt mit Jungen, strolcht durch den Wald, lauert hinter der Angel, um den Hecht zu überlisten. Eva ist auch prima. Wie sie meine Jacke gestopft hat! Nicht einmal Mutti hat den Schaden bemerkt. Eva kann ein Geheimnis hüten, und flink ist sie wie ein Sommerwind.

Erzähle ich Peter von der Champignonsuche, wird er eingeschnappt sein, vielleicht dummes Zeug reden … von Braut und so. Ich werde ihm doch nur die Kahnschlüssel geben.

Angeln kann ich später an der Ostsee. Dort fange ich nur große Fische. Kahnfahren, pah! Bald steige ich auf einen Ostseedampfer. Ein Kapitän sieht was von der Welt. Er fährt über alle Meere: Ostsee, Nordsee … Ozean … Wellen … Wellen … Sturm. Windstärke zwölf. Ich steuere das neuste Schiff unserer Flotte, schlank und schnittig. Die Atomturbinen brummen. Einen Augenblick tanzt mein Schiff oben, dann saust es ins nächste Wellental. Oben – unten, oben – unten. Mir macht das Schaukeln nichts aus, ein Kapitän ist seefest. Nur die anderen, die haben sich unter Deck verkrochen und jammern. Wellen sind das! Hoch wie der Kirchturm von Krahnow. Nein, höher! Ich könnte bequem auf den Wetterhahn spucken.

Überall schwimmen Fische, länger als mein Arm, riesengroße. Es sind Haie. Sie glotzen mich an. Ob sie sich wundern, dass ich Kapitän bin? Sollen sie sich wundern.

Ihre breiten, schwarzen Mäuler klappen auf und zu. Sie verschlingen etwas: Champignons – lauter Champignons! Ich schreie: „Die gehören Eva!“ Ran an das Torpedorohr! Ich haue auf den Zündknopf. Es rumst wie hundert Donnerschläge. Der Torpedo zischt wie eine Seeschlange aus dem Rohr. Die Haie türmen. Ihre Schwanzflossen peitschen durch die See.

Mit einem Senknetz fische ich die Champignons aus dem Wasser. Immer wieder. Es ist schon ein großer Berg.

„Aufstehen, gleich sieben!“

Vor Schreck falle ich über Bord. Aber nein, ich liege in der Stube vor meinem Bett. Mit beiden Händen wische ich mir über die Augen. Dann sehe ich mich vorsichtig um, ob ich wirklich zu Hause bin. Tatsächlich, alles fort: Schiff, Meer, Haie, Champignons.

„Bist du auf?“, ruft Mutti vom Hausflur die Treppe herauf.

„Ja“, antworte ich.

Ich gucke in den Wandspiegel und muss lachen. Sieht so ein Kapitän aus? Zerknautschtes Nachthemd und plierige Augen, die Haare stehen ab wie die Stacheln beim Stachelschwein.

„Beeile dich, Caspar!“

Caspar heiße ich, Caspar Ramm. Ein ganz alberner Vorname. Wie das meine Eltern übers Herz bringen konnten! Das ist so ein Tick, mein Vater sagt dazu Familientradition. Die ältesten Söhne heißen bei uns immer Caspar. Vati auch. Schade, dass ich allein bin und keinen älteren Bruder habe. Meinen Jungen nenne ich bestimmt nicht so, dem suche ich einen vernünftigen Namen aus.

Meist werde ich Ramme genannt. Das finde ich prima. Es klingt gewaltig, als wenn dem nichts widerstehen kann.

Neuerdings sagt Eva Cass zu mir. Sie findet das schick. Ich ziehe mir die Turnhosen an und kommandiere: „Los, Ramme, waschen!“´

Bereits 1952 veröffentlichte der später ziemlich viel gelesene und berühmt gewordene Schriftsteller Wolfgang Schreyer im Verlag Das Neue Berlin seinen Debütroman „Großgarage Südwest“ – den ersten Kriminalroman der DDR überhaupt: Neun Jahre vor dem Mauerbau führte er in das geteilte Berlin: Schauplatz der fantasievollen Story. Wenn diese Affäre so viele Leser gefunden hat, so auch dank zweier gestandener Kriminalisten, die dem Autor damals mit ihrem Rat zur Seite standen. Das Buch bietet dem krimiverwöhnten Leser der Gegenwart noch immer atemberaubende Spannung und erinnert an die Zeit, als die Westberliner und Ostberliner Kriminalpolizei sich bei der Gangsterjagd noch gegenseitig unterstützten. Hier der Anfang dieses noch immer spannend zu lesenden Buches:

„ERSTES KAPITEL

1.

An einem der letzten Julitage des Jahres 1948 betrat Kriminalassistent Alexander Schenzlin das Hochhaus des „Deutschen Rings“ am Karl-Muck-Platz 1. Hier waren die Dienststellen der Hamburger Kripo untergebracht.

Er schlürfte lässig, von dem Weg durch die glühende Stadt erschöpft, an der Portiersloge vorbei, nahm ein paar flache Stufen und verhielt vor der Treppe – einen Augenblick nur. Die Hitze draußen war kaum erträglich gewesen; im Inneren des großen, jetzt seltsam leeren Gebäudes – es war die Mittagsstunde – schien es angenehm kühl. Gespenstisch glitten die Paternosterkabinen vorbei, fast alle unbesetzt; Alexander nahm erst die sechste. Er lehnte sich gegen die Wand und beobachtete ohne Interesse das langsame Vorbeigleiten der Etagenböden. Sekundenlang erschien ein Bild vor seinen Augen, die Erinnerung an den gestrigen Tag: Wasser, strahlend blauer Himmel, die sengende Sonne, und ein Mädchen, braungebrannt wie er selbst … Helga …

Gerade noch rechtzeitig sprang er aus der Kabine. Er bog links ein und öffnete eine Tür, die eine dreistellige Nummer trug.

Kriminalsekretär Schmidt, der Kollege, der ihn vertreten hatte, schwenkte träge mit dem drehbaren Sessel herum.

„Tag, Alexander. Na, war es schön?“

„Danke. Schön warm.“

„Und sonst – -?“

„Sonst auch.“

Schenzlin zog ein Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete sein Schrankfach. Er legte die Aktentasche mit dem Kaffeebrot hinein und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Aus dem Nebenzimmer drang das Tacken einer Schreibmaschine. Alexander blickte zu seinem Kollegen hinüber und überlegte, dass es wohl angebracht sei, sich für den geopferten Vormittag zu bedanken – obwohl solches Einspringen stets auf Gegenseitigkeit beruhte -, als dieser schon selbst seinen Mund auftat.

„Du, Alexander, es hat gar keinen Zweck, dass du dich erst noch mal hinsetzt. Nachher kommst du bloß nicht wieder hoch. Du sollst nämlich zum Alten.“

„So? Was Besonderes?“

„Keine Ahnung. Er hat es vorhin persönlich bestellt, sofort, wenn du kommst – “

„Was hat er denn für ein Gesicht gemacht?“

„Weiß nicht. Wie immer.“

Schenzlin stand knurrend auf. Er ging quer über den Korridor und klopfte an eine Tür, die außer der Nummer noch ein kleines Schild mit der Aufschrift ‚Kriminalrat Schulz‘ trug.

Als Schenzlin eintrat, erhob sich hinter dem Schreibtisch ein älterer, langer und dünner Herr in einem lila Anzug: Kriminalrat Schulz streckte ihm die Hand entgegen. Alexander, durch dieses ungewöhnliche Benehmen überrascht, kam ein wenig aus dem Konzept. Er hatte vorgehabt, an der Tür stehenzubleiben und in dienstlichem Ton zu melden: ‚Kriminalassistent Schenzlin vom Urlaub zurück‘ – was nun nicht mehr anging. So sagte er nichts außer einem gemurmelten ‚Guten Tag‘, blieb vor dem Schreibtisch stehen und drückte die schmale Hand seines Vorgesetzten, wobei er eine Verbeugung andeutete.

„Bitte, lieber Kollege, nehmen Sie Platz. Nun, haben Sie sich gut erholt die zwei Tage? Schönes Wetter hatten Sie ja. Für mich wäre das nichts mehr, ich vertrage die Sonne schlecht. Ja! – – was ich sagen wollte …“

Aber es schien ihm im Augenblick nicht einzufallen, was er sagen wollte. Wahrscheinlich ist die Hitze daran schuld, dachte Alexander. Warum hat er sich auch ein Zimmer mit den Fenstern nach Süden geben lassen? In seiner Stellung kann man doch Wünsche äußern.

Die pralle Mittagssonne fiel unbarmherzig herein. Es mussten über 30 Grad im Raum sein. Alexander streifte das hässliche Faltengesicht, den dünnen Hals und den zu weiten Papierkragen seines Vorgesetzten mit müdem Blick. Wenn Hässlichkeit ein Gradmesser für Intelligenz war, wie das mitunter behauptet wurde – dachte er – dann musste Schulz die Eigenschaft in hohem Maße besitzen.

Der Kriminalrat erhob sich mit einem Ruck, der einen Schweißausbruch zur Folge hatte. Er machte sein übliches sauertöpfisches Gesicht und stelzte unbehaglich hinter dem Schreibtisch hin und her. Seiner allbekannten Gewohnheit, die Daumen in die Ärmelausschnitte der Weste einzuhaken, konnte er heute nicht nachgeben, da er sie der Hitze wegen ausgelassen hatte. So klammerten sich seine Hände um die Rockaufschläge, ohne dort zuverlässigen Halt zu finden. Ab und zu streifte er Schenzlin mit nervösem Blick.

„Also, es handelt sich da um folgendes: Am vergangenen Freitag wurde doch unter der Leitung des Kommissars Behnke eine Razzia in der Sumatra-Bar durchgeführt.“

„Ganz recht, Herr Kriminalrat.“

„Sie – – waren auch dabei?“

„Jawohl, Herr Kriminalrat, gewiss! Sie selbst hatten doch die Einteilung getroffen.“

Schulz schien sich zu besinnen. „Hm. Jaja. Sie haben ganz recht, natürlich“, brummte er und setzte seinen Spaziergang fort. Seine Stiefel knarrten vernehmlich.

Alexander starrte vor sich hin. Die Sonne zeichnete das Bild des Fensterkreuzes auf den Linoleumfußboden. Was wollte der Alte eigentlich von ihm? Warum machte er einen so verlegenen und unbeholfenen Eindruck? Alexander mochte ihn im Grunde genommen trotz seines wenig einnehmenden Äußeren gern. Mit Schulz kam er weit besser aus als mit Behnke, dem er unmittelbar unterstellt war und der viel von einem alten Kommissknochen an sich hatte. Schulz dagegen war ein gutmütiger, wenn auch leicht misstrauischer Mensch. Was hatte er nur heute? Weshalb erst der freundliche Empfang und jetzt das bedenkliche Schweigen? Das alles war ziemlich ungewöhnlich und gab reichlich Stoff zum Nachdenken. Aber gerade das konnte Alexander jetzt nicht. Die seltsame Atmosphäre der summenden und verstaubten Wärme dieses Amtszimmers schien jede Verstandestätigkeit zu lähmen.

Der Kriminalrat beendete seine Wanderung ebenso plötzlich wie er sie begonnen hatte. Er ließ sich erschöpft in den Sessel sinken, nahm einen gelben Bleistift zur Hand und spielte nervös und abwesend damit. Schenzlin blickte irritiert auf den Bleistift. Langsam traten kleine Schweißtröpfchen auf seine Stirn.

„Also, lieber Schenzlin, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir berichten wollten, wie die Aktion in der Sumatra-Bar in allen Einzelheiten verlaufen ist.“

„Gern, Herr Kriminalrat; – ich dachte nur, Kommissar Behnke hätte schon den Bericht – -“

„Hat er auch. Nein, Sie verstehen mich noch nicht so ganz. Ich möchte einen ganz persönlichen und inoffiziellen Bericht von Ihnen, Ihre Eindrücke, Ihre Wahrnehmungen. Sie wissen, ich unterrichte mich gern aus mehreren Quellen. Vielleicht haben Sie doch eine Kleinigkeit gesehen, die Sie vielleicht für unwesentlich halten, die Behnke entgangen ist, gerade das kann von Wichtigkeit sein, verstehen Sie?“

Alexander verstand ganz und gar nicht. In ihm stieg langsam ein unbehagliches Gefühl hoch. Was redete der Alte da zusammen? Warum sprach er so sonderbar unruhig? – Alexanders Gedanken streiften plötzlich einen Punkt, den sie schreckhaft sogleich wieder verließen. Augenblicklich begann sein Verstand fieberhaft zu arbeiten. Wie konnte ich das auch nur eine Sekunde vergessen? Warum sieht mich der Alte so merkwürdig an? Tut er das wirklich oder bilde ich mir das bloß ein? Der Kragen drückt – – diese ekelhafte Wärme … – ich muss jetzt etwas sagen – –

„Herr Kriminalrat, es war so: Schmidt entdeckte als erster in der Wand des Korridors, der nach hinten in die Küche führt, eine geschickt getarnte Tür. Die Wand war hier überall mit einem grünen Stoff bespannt. Kollege Schmidt bemerkte, dass die Nägel, mit denen er befestigt war, an einer Stelle nicht Nägel, sondern Druckknöpfe waren. Man konnte die Bespannung bequem ablösen, und dann erschien die besagte Tür. Wir brachen sie rasch auf und traten ein. Ein kleines Zimmer mit Polstermöbeln, fünf Herren, die keinen Widerstand leisteten. In der Mitte ein Tisch, darauf ein Koffer, – ein kleinerer Koffer –“

„Inhalt?“

„Inhalt kleine gläserne Ampullen, in Watte verpackt, wie wir gleich sahen, Morphium. Dann ein weißes Pulver ohne Aufschrift, von dem Kommissar Behnke annahm, es sei Kokain. Ferner fanden wir in den Seitenpolstern der Sessel Geldscheine; – warum der Versuch gemacht worden ist, diese zu verstecken, kann ich nicht sagen. Die Leute mussten doch damit rechnen, dass wir – -“

„Schon gut. Ist Ihnen noch etwas Besonderes aufgefallen? Haben nicht Sie ganz persönlich noch etwas beobachtet -?“

„Hinsichtlich des Koffers oder hinsichtlich der Festgenommenen?“

„Nein, mich interessieren jetzt besonders die gefundenen Gegenstände.“

Alexander überlegte rasch. Das war ja nicht die Entgegennahme eines Berichts, sondern – ein Verhör! Nur keine Unruhe zeigen. Der weiß nichts. Sonst hätte er es schon längst gesagt!

„Jawohl, Herr Kriminalrat.“

„Nun-?“

„Ich hatte das Geld zu zählen, und es fiel mir auf, dass es zehn- oder zwölfmal mehr war, als was der Inhalt des Koffers zu Schwarzmarktpreisen kostet.“

„Können Sie das so genau beurteilen?“

„Ich habe ein halbes Jahr im Rauschgiftkommissariat Dienst getan, Herr Kriminalrat.“

„Ach so. Nun, wie erklären Sie sich das?“

„Vielleicht so, dass der Kofferinhalt lediglich eine Warenprobe darstellte, und dass in Wirklichkeit über bedeutend größere Mengen verhandelt wurde. Den Lagerort der Hauptmenge herauszubekommen, musste somit unsere nächste Aufgabe sein …“

Alexander schwieg, denn Schulz hörte offensichtlich gar nicht zu.

„Sie hatten den Eindruck, dass es zuviel Geld war, nicht wahr, Herr Schenzlin?“

Alexander spürte mit schmerzhafter Deutlichkeit den Doppelsinn dieser Frage. In diesem Augenblick wusste er, weshalb ihn der ‚Alte‘ zu sich gerufen hatte. Und er wusste auch, dass seine Sache verloren war. Aus! – Jemand musste es gesehen haben. Seine Laufbahn bei der Kriminalpolizei war zu Ende. – Der Schweiß brach ihm am ganzen Körper aus. Er lehnte sich sekundenlang zurück und schloss die Augen. Endgültig – aus.

„Ich wäre wahrscheinlich ein schlechter Untersuchungsrichter. Machen Sie es mir leicht, Schenzlin, und geben Sie zu, dass sie aus dem Bündel Geldscheine während des Zählens einen Hunderter entwendet haben.“

„Ich gebe es zu.“

„Schön. Hätte auch keinen Zweck gehabt. Behnke hat es nämlich gesehen. Das Geld haben Sie natürlich für Ihren Urlaub oder für sonst was verbraucht. Die alte Sache. Ich hatte Sie eigentlich nicht so eingeschätzt, jawohl, nicht so! Sie haben mich schwer enttäuscht.“

Schulz erhob sich und blieb in einer Weise hinter dem Schreibtisch stehen, dass Alexander sich ebenfalls genötigt sah, aufzustehen.

„Da Sie sich so verhalten haben, werden Sie sich wohl darüber im klaren sein, dass – -, dass Sie hier – -“, er verhedderte sich, „wir können nicht bei der Kripo Leute beschäftigen, die – – nicht wahr?“

Jawohl“, sagte Alexander.

Schulz ließ sich erschöpft auf seinen Sessel nieder und nahm den gelben Bleistift zur Hand. Er mochte erkennen, dass die Hitze seine Anstrengung zunichte machte, eine Rolle zu spielen, die ihm sowieso nicht lag. In fast väterlichem Ton fuhr er fort:

„Lieber Schenzlin, ich will Ihnen jetzt, wo wir uns trennen müssen, zugeben, dass Sie mir recht sympathisch gewesen sind. Ich bin zu alt und zu lange im Polizeidienst, als dass ich Ihre Verfehlung anders als einen Jugendstreich ansehen kann. Ich kann mich gut in Ihre Lage versetzen. Die Versuchung war groß, Sie sind jung, ein wenig leichtsinnig, Sie haben sich die Sache gar nicht richtig überlegt. Wäre die Geschichte unter uns geblieben, dann hätten Sie mir, das weiß ich genau, die hundert Mark stillschweigend wiedergegeben und ein zweites Mal wäre Ihnen so etwas nicht passiert. Aber wie die Dinge nun liegen, müssen Sie Ihren Dienst quittieren. Das wäre nicht nötig gewesen.“

„Ich muss die Folgen tragen – selbstverständlich“, sagte Alexander leise. Er legte seinen Polizeiausweis auf den Tisch.

„Ich habe Vertrauen zu Ihnen und zweifle nicht daran, dass Sie die hundert Mark schnellstens zurückerstatten werden. Ich meinerseits werde alles tun, um Ihnen für später keinen Stein in den Weg zu legen. Ihre Entlassungspapiere werden den Vermerk tragen: Auf eigenen Wunsch. Und dann habe ich noch eine Bitte an Sie, Herr Schenzlin. Was Sie vielleicht nicht wissen: es gibt Leute, die sich für entlassene Kriminalbeamte interessieren. Lassen Sie sich mit niemandem ein, bleiben Sie auf dem richtigen Weg, es gibt noch andere ehrliche Berufe. Wie alt sind Sie?“

„Dreiundzwanzig.“

„Na also. Kopf hoch! Fangen Sie etwas Neues an. Es gibt zahllose, die weit älter sind, die auch von vorn anfangen müssen, Umsiedler, Heimkehrer usw. Verlieren Sie nicht den Mut. – Das war es, was ich Ihnen sagen wollte.“

Alexander verabschiedete sich. Draußen auf dem Flur fiel es ihm zum ersten Mal ein: Was wird Helga dazu sagen? Jetzt irgendwo unterzukommen wird nicht einfach sein. Der Alte hat gut reden. Das mit dem Geld war auch schwierig. In seiner Brieftasche befand sich ein Zwanzigmarkschein; das war alles. Einen Anzug versetzen – das reichte nicht. Die Armbanduhr noch dazu – vermutlich auch nicht. Benommen langte er vor dem Aufzugsschacht an. Leise knarrend glitten leere Kabinen vorbei …

Unten am Hauptportal schlug ihm der heiße Atem der Stadt entgegen. Vor ihm, auf dem Karl-Muck-Platz, parkten eine Anzahl Fahrzeuge; von der anderen Seite flimmerte die Fassade der Musikhalle im grellen Sonnenschein. Auf dem weichen Asphalt stand ein schwerer Lastkraftwagen; ein schmutziger Mann saß hinter dem Steuerrad. Der Dieselmotor stieß sein taktmäßiges, heiseres Blubbern aus; unter der Motorhaube tropfte Öl hervor, das auf der glühenden Straßenfläche eine schillernde, dampfende Lache bildete. Was nun? Alexander tat ein paar verlorene Schritte. –

Flirrende Hitze, Benzindunst und Staubgeruch verdichteten sich zu einem Erinnerungsbild: Er glaubte für Sekunden warmen, ausgedörrten und von tausend nackten Füßen festgestampften Lehmboden zu sehen. Soweit das Auge reichte: Gelbbraune Bodenwellen, armselige Zelte, kilometerlanger Stacheldraht, Wachttürme, Jeeps. Heilbronn, Cage 3, das war der Anfang gewesen, der Ausgangspunkt für ein Leben in Freiheit und in Hunger. Wie würde es jetzt weitergehen. Ja – wie?“

Erstmals 2007 veröffentliche Kurt Redmer im Verlag Nordwindpress seine antifaschistische Dokumentation über Geschehnisse in Mecklenburg im 2. Weltkrieg und danach „Die letzten und die ersten Tage“: Außerordentlich gründliche und langzeitige Recherchen versetzten den Autor in die Lage, dieses packende Buch zu verfassen, welches wenig aufgearbeitete Geschehnisse beinhaltet, die sich in den letzten Tagen des 2. Weltkrieges in Mecklenburg und besonders in der Schweriner Region ereignet haben. Ein klärendes Buch, welches nachdenklich stimmt. Hier ein Auszug aus dem zweiten Kapitel:

„Kapitel 2: Geschehen in Blievenstorf und Stolpe

Von Kurt Redmer

  1. Richtiges und Widersprüchliches zum Gefecht von Blievenstorf

Am 2. Mai 1997 veröffentlichte das Mecklenburg-Magazin der Schweriner Volkszeitung meinen Beitrag zum Gefecht vom 3. Mai 1945 in Blievenstorf. Er basierte vornehmlich auf Berichten von Hermann Mulsow und anderen. (Die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges in Blievenstorf. Fünf Minuten vor Zwölf – musste das sein? Tatsachenbericht nach Zeitzeugenaussagen von Hermann Mulsow, Franz Kurtz, Paul Milbach, Friedrich Levknecht, in: Kurt Redmer, Es geschah 1945 und 1946 bei und in Schwerin, Plawe Verlagsgesellschaft KG, 2003) Verfasser und Zeitpunkt seiner Abfassung bleiben uns bis heute unbekannt.

Insbesondere ein Bericht des Marineoffiziersanwärters E. Schmidt (Zeitzeugenbericht von E. Schmidt, Ich war am Gefecht von Blievenstorf beteiligt, in: Kurt Redmer, Zum Geschehen bei und in Schwerin 1941 -1946, Plawe Verlagsgesellschaft KG 2005, S.201 f.) und Zeitzeugenaussagen über den sich zu der Zeit in Stolpe bei Blievenstorf befindlichen Stab Steiner, (General der Waffen-SS Felix Steiner in Stolpe, Zeitzeugenbericht von Marta Krüger, Stolpe, in: Kurt Redmer, Es geschah 1945 und 1946 bei und in Schwerin, Plawe Verlagsgesellschaft KG, 2003, S.124 Siehe auch: Begegnung im Schloss von Friedrich Franz Erzherzog von Mecklenburg, Brief vom 05.08.1987, in: Joachim Schultz-Naumann. Mecklenburg 1945, Universitas Verlag, 2. Auflage 1990, S. 132 ff.) geben uns eine neue Sicht auf das Geschehen vom 3. Mai 1945 in Blievenstorf. Richtig bleibt, dass dort 19 deutsche und 8 sowjetische Soldaten fielen. Und richtig ist auch, dass durch die Kämpfe die Rückzugstraße der deutschen Truppen von Parchim nach Ludwigslust noch über Stunden frei blieb.

Es hat zwei Gefechte gegeben.

Der Zeitzeuge Schmidt, Teilnehmer an den Kampfhandlungen, berichtet über ein Gefecht zwischen 11.00 und 11.15 Uhr, bei dem sieben sowjetische Panzer vom Typ Shermann, die aus Lieferungen der US-Amerikaner stammten, von seinem Zug in der Eingangsstraße von Muchow abgeschossen wurden. Er lernte an diesem Tag nur die Eingangsstraße von Spornitz und die Ausgangsstraße nach Muchow kennen, wo die Panzer mit Panzerfäusten bekämpft wurden. In Brand gerieten sie nicht. Ihre Insassen wurden wahrscheinlich durch die Druckwelle der im Innenraum explodierenden Panzerfaustköpfe getötet. Sein Zug, der von einem älteren Leutnant geführt wurde, verließ darauf den Kampfplatz und zog sich in Richtung Neustadt-Glewe zurück. Keiner von ihnen war zu Schaden gekommen. Zwischen den Häusern liegend, konnten sie die Panzerbesatzungen, die ohne aufgesessene Infanterie kamen, nicht sehen.

Der zweite sowjetische Angriff, bei dem Panzer T 34 mit aufgesessener Infanterie zum Einsatz kamen, begann nach Zeitzeugenaussagen etwa eine halbe Stunde später. Obwohl auch bei ihm mehrere Panzer mit Panzerfäusten abgeschossen wurden, führte er letztlich zur Unterbrechung der Straße von Parchim nach Ludwigslust. Lehrer Bahlke wusste zu berichten, dass noch im Juni 1946 einer von ihnen am Westende des Friedhofs stand. Offen bleibt, ob vor dem Angriff mit den T 34 noch ein Aufklärungsfahrer, der mit einem Krad von Süden in das Dorf kommen wollte, erschossen worden ist.

Unklar bleibt im Kontext von zwei Angriffen die Anzahl der gefallenen sowjetischen Soldaten. Wenn wirklich 7 Shermann-Panzer abgeschossen wurden, was uns E. Schmidt als Beteiligter glaubhaft versichert, dann muss es damit bei Dreimannbesatzungen schon 21 gefallene Sowjetsoldaten gegeben haben. Aber wo blieben sie? Warum berichtet kein Blievenstorfer über sie? Sind sie schon gleich nach dem 3. Mai aus dem Dorf geholt worden? Die meisten Dorfbewohner können, da sie vor den zu erwartenden Kämpfen in die nahen Wälder geflüchtet waren, nichts darüber berichten.

War es wirklich ein Generalmajor der Waffen-SS, der die Kämpfe während des zweiten Angriffs im Dorf organisierte und leitete? Auch diese Frage kann nicht endgültig beantwortet werden. Der sich mit seinem Stab in Stolpe befindliche Obergruppenführer und General der Waffen-SS Felix Steiner war einer der höchsten deutschen SS-Generale überhaupt, in seinem Rang einem Generalobersten der Wehrmacht gleich. Es ist kaum anzunehmen, dass er mit vorgehaltener Pistole das Anbringen von weißen Tüchern auf dem Kirchturm verhinderte und später zu Fuß über die Babenkoppel geflüchtet sein soll.

Allerdings kann sein persönliches Eingreifen in dieser Ausnahmesituation auch nicht völlig ausgeschlossen werden. Wir wissen, dass er mit seinem Stab an diesem Tage etwa 10.30 Uhr Stolpe verließ und schon 10 Minuten später Blievenstorf erreicht haben könnte. Ein wesentliches Motiv für seinen ganz persönlichen Einsatz könnte gewesen sein, dass er SS-Einheiten, in denen sich auch viele ausländische Söldner befanden, unbedingt vor einer sowjetischen Gefangenschaft bewahren wollte. Schließlich hatten sie sich aus seiner Sicht in den von ihm befehligten Truppeneinheiten bis hin zum Armeekorps als Soldaten und Antikommunisten bewährt. Sie sollten, und natürlich nicht nur sie, für einen weiteren gemeinsamen Kampf mit den US-Amerikanern und Briten gegen die Sowjets erhalten bleiben.

Als sicher ist anzunehmen: Der Stab Steiner, der, wie wir wissen, ein Stab ohne unterstellte Truppen war, handelte beratend und in Abstimmung mit der 51. Deutschen Armee, deren Stab in den letzten Kriegstagen vom Flugplatz Neustadt-Glewe aus den Rückzug ihrer Truppen zu leiten versuchte. (Siehe auch: Zeitzeugenbericht von Meta Krüger, in: Kurt Redmer, Zum Geschehen bei und in Schwerin 1941 -1946, Plawe Verlagsgesellschaft KG, 2005 und Einsatz in der Reichsverteidigung von 1939-1945, Jagdgeschwader 1 und 11, Teil 3, 1944-4, S. 1562) Einer seiner beiden Ordonnanzoffiziere, kein geringerer als Friedrich Franz Erbgroßherzog von Mecklenburg, berichtet uns, dass Steiner nur ein Ziel verfolgte, nämlich zu erreichen, dass die deutschen Truppen im Raum nördlich von Berlin sich auf das Gebiet der Westmächte begeben konnten, um auf keinen Fall auf der russischen Seite zu bleiben und von ihnen gefangen genommen zu werden. Mit den Gefechten von Blievenstorf konnten in diesem Sinne Teilerfolge erzielt werden. Die Vorstellung eines sich anschließenden Kampfes von deutschen, US-amerikanischen und britischen Truppen gemeinsam gegen die Sowjets war und blieb Illusion, der nicht nur Steiner, sondern auch höchste deutsche Generäle in den obersten Führungsstäben der Wehrmacht nachhingen.“

Soweit ein kurzer Auszug aus der Dokumentation von Kurt Redmer. Es dürfte wieder einmal schwerfallen, sich aus diesem aktuellen Angebot für nur ein E-Book zu entscheiden. Spannend sind sie auf ihre Weise schließlich alle – egal, ob es sich um Krimis handelt oder um eine historische Dokumentation, die zum Beispiel einige Ereignisse gegen Ende des zweiten Weltkriegs in Mecklenburg (und auch danach) auch einem ganz anderen Blickwinkel betrachtet und auf diese Weise verstehen lässt.

Aber Sie brauchen sich ja nicht unbedingt nur für ein Angebot entscheiden. Viel Spaß beim Auswählen und beim Lesen, Frohe Ostern natürlich und bis demnächst.

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