Attacken, Drohungen und Einschüchterungsversuche von nationalistischen Politikern gegen Medienschaffende in der Türkei nehmen knapp ein Jahr vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen rasant zu. Reporter ohne Grenzen (RSF) verurteilt die Einschüchterungsversuche aufs Schärfste.

„Wir befürchten, dass die Angriffe eine neue Welle der Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten ankündigen, wie wir sie schon bei den Kommunalwahlen 2019 gesehen haben, als AKP und MHP erstmals Verluste in den Großstädten verzeichneten“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr.

Geplant sind die Wahlen des Parlaments sowie der Präsidentin oder des Präsidenten für den 18. Juni 2023, wobei möglich ist, dass sie vorgezogen werden. Aktuell regiert in der Türkei ein Bündnis von Präsident Recep Tayyip Erdoğans autoritärer, islamistischer AKP und ihrer engsten Verbündeten, der ultranationalistischen MHP.

Bewaffneter Überfall auf YouTuberin

Der neuste Angriff traf die Bürgerjournalistin Ebru Uzun Oruç, die durch ihren YouTube-Kanal Sokak Kedisi (zu Deutsch: Straßenkatze) bekannt ist. Am 14. August hatte sie im Istanbuler Stadtteil Kadıköy Passantinnen und Passanten befragt, was diese vom MHP-Vorsitzenden Devlet Bahçeli hielten. Nachdem sie von MHP-Unterstützern bedroht wurde, attackierten mehrere Bewaffnete Oruç und ihren Partner und verfolgten diesen mit einer Waffe. Die beiden konnten gerade noch entkommen und blieben unverletzt. Es wurden zunächst drei Verdächtige festgenommen, doch die Polizei entließ diese unmittelbar nach einer Befragung.

 „Man muss wissen, dass dieser Angriff nicht nur auf das Team von Sokak Kedisi verübt wurde, sondern der gesamten Presse in unserem Land gilt. Er zielt auf die Rede- und Meinungsfreiheit aller Menschen ab! Denn die Presse zum Schweigen zu bringen bedeutet, der Bevölkerung ihr Recht auf Redefreiheit zu nehmen“, ordnete die Betroffene den Angriff auf Twitter ein. Sie und ihr Team wollten nach diesem Einschüchterungsversuch erst recht „weiter für Redefreiheit kämpfen und der Stimme der Menschen noch entschlossener Gehör verschaffen“, so Oruç weiter.

Parlamentarier attackiert Journalisten

Nur wenige Tage zuvor erlebte der Journalist Latif Şimşek einen gewaltsamen Übergriff durch den nationalistischen Abgeordneten Cemal Enginyurt und dessen Bodyguard. Vorangegangen war der Gewalt am Abend des 6. August ein hitziger Schlagabtausch im Studio des Nachrichtensenders TV100. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen aufgenommen, doch die polarisierte Stimmung, die politische Justiz und das Maß an Straflosigkeit in der Türkei lassen begründete Zweifel aufkommen, ob das Verfahren zu Gerechtigkeit führt.

Innenminister diffamiert Zeitung

Am 4. August hat Süleyman Soylu, also der Innenminister persönlich, die Tageszeitung BirGün verbal attackiert. Er beschuldigte sie, „das Sprachrohr der PKK“ zu sein. Dieser Vorwurf kann in der Türkei ins Gefängnis führen, da die PKK, die Arbeiterpartei Kurdistans, ebenso wie deren Unterstützung verboten ist.

Darüber hinaus konstruierte Soylu den Vorwurf, die Zeitung habe versucht, ihn zu verleumden. Der Innenminister behauptete, ein von BirGün veröffentlichtes Foto hätte ihn mit dem Verlag Yedi Iklim in Verbindung gebracht. Der Verlag war in die Kritik geraten, da er Prüfungsfragen für Angestellte des öffentlichen Dienstes geleakt haben soll. Tatsächlich war Soylu auf einem Foto von einer Feier des Innenministeriums aus dem Jahr 2017 zu sehen, das der Verlag Yedi Iklim später für eine Werbekampagne nutzte. Die Zeitung BirGün hatte dies ordnungsgemäß angegeben.

MHP bedroht Fernsehsender

Am 3. August bedrohten die Parteiführer der MHP den Fernsehsender HaberTürk. Der Vorsitzende Devlet Bahçeli und sein Stellvertreter Semih Yalçin Turgay Ciner kritisierten den Fernsehsender aufgrund eines Kommentars, den ein Studiogast gemacht hatte. Dieser hatte moniert, dass ein nun entlassener Behördenleiter Verbindungen zur MHP habe, und gesagt, dass er unzufrieden sei, dass religiöse Gruppen immer mehr Einfluss nehmen.

Die MHP-Führung erhob daraufhin Vorwürfe gegen den Vorstandsvorsitzenden der Ciner Media Group, also das Unternehmen, dem der Sender HaberTürk gehört: Das Unternehmen habe eine redaktionelle Linie durchgesetzt, die „der Regierungskoalition feindlich gegenübersteht“. Die Ultranationalisten drohten dem Vorstand öffentlich: „Dafür wird er bezahlen“.

„Diejenigen, die sich an der Mission beteiligen, die Präsidentenallianz zu bezichtigen und zu verleumden, sind die Stützen der Unanständigkeit (…)“, sagte Bahçeli. „Es wird alles getan werden, damit diejenigen, die es wagen, mit der Ruhe und Hoffnung unseres Volkes zu spielen, es bereuen werden.“

Kürşad Oğuz, ein Mitarbeiter des Fernsehsenders, verteidigte HaberTürk: „Die Kommentare von Semih Yalçin wurden live übertragen. Weder ich noch unser Moderator haben in diesem Zusammenhang Kritik an der MHP (…) geäußert. Die Kritik kam von einem unserer Gäste, was in einer offenen Diskussion normal ist.“

Nationalistische Hetze gegen Moderatoren

Am 3. August bedrohte ein Pro-Erdoğan-Aktivist, der sich selbst „Dr. Mustafa Yücel“ nennt, über seinen Twitter-Account zwei bekannte Moderatoren, die für kritische Fernsehsender arbeiten: Zafer Arapkirli (KRT) und Aysenur Arslan (Halk TV). Die beiden hatten Esin Davutoğlu Şenol, eine Spezialistin für Infektionskrankheiten, unterstützt, nachdem diese von türkischen Impfgegnern attackiert worden war. Yücel bezeichnete die Journalisten als „Feinde Erdogans, des Islam und des Staates“. Er war zuvor bereits wegen der Bedrohung von Şenol verhaftet worden, wurde aber wieder freigelassen.

Angespannte Stimmung

Noch bevor die Wahlen offiziell begonnen haben, herrscht in der Türkei eine angespannte Stimmung. Denn gegen die Regierungskoalition wird erstmals eine „Nationale Allianz“ antreten. Sie besteht aus sechs sehr unterschiedlichen Parteien (CHP sowie Iyi, Gelecek, Deva, Saadet und Demokrat Parti) und fordert unter anderem eine Rückkehr zum parlamentarischen System. Laut mehrerer Umfragen liegt sie zurzeit vor dem Regierungsbündnis. Dies ist ein Novum in 20 Jahren Erdoğan-Herrschaft.

Bei den Kommunalwahlen im März 2019 folgten auf die Niederlage von AKP und MHP mehrere Monate der Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten. Schon damals hatten Ultranationalisten Medienschaffende auf der Straße angegriffen, beispielsweise Yavuz Selim Demirağ in Ankara, Hakan Denizli in Adana und İdris Özyol in Antalya, nachdem sie das AKP-MHP-Bündnis kritisiert hatten.

„Die Stimmung in der Türkei ist toxisch“, so RSF-Geschäftsführer Mihr. Besorgt ist RSF deshalb auch über das Schicksal verhafteter Medienschaffender, die immer noch auf ihre Anklage warten. Zudem besteht die Gefahr von Angriffen türkischer Nationalisten auf Journalistinnen und Journalisten im Exil, wie sie in Deutschland bereits vorgekommen sind. „Aufgrund der Angriffe aus der Vergangenheit werden wir auch diese Wahlen wieder sehr genau beobachten“, kündigt Mihr an.

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