In knapp neunzig Tagen wird das neue EU-Parlament gewählt. Die ersten politischen Parteien haben bereits ihre Wahlkampagne gestartet. Der Countdown läuft, und das merkt man in Brüssel und Strasbourg ganz deutlich.

Weit vor den Wahlen, am 8. März genauer, war der Internationale Frauentag. In diesem Jahr dominierten hier zwei Themen: die Vertuschung von MeToo bei den deutschen Grünen und ein konkreter Vorschlag zur Zukunft des Frauenausschusses ausgerechnet von der AfD.

Das MeToo-Problem der Grünen Terry Reinkte. Der aktuelle MeToo-Skandal sexueller Gewalt im EU-Parlament betrifft die Grünen-Fraktion und ihre Vorsitzende Teresa Reintke aus Gelsenkirchen. Das Plakatgesicht der Grünen für die EU-Wahlen am 9. Juni ist offenbar so tief in die Vertuschung von sexueller Gewalt in der Landesgruppe der deutschen Grünen in Brüssel verstrickt, dass sogar ihr Pressesprecher bei der Parlamentspressekonferenz die schwerwiegenden Vorwürfe bestätigen und irgendwie Aufklärung versprechen musste. Malte Gallé trat ja bereits still und heimlich zurück. Doch das ist offensichtlich längst nicht alles. Noch zwei weitere deutsche Grüne haben Probleme mit sexueller Gewalt im Büro. Dieser Spitze des Eisbergs sollte jetzt die Grüne Frontfrau „Terry“ Reintke mit doppeltem Rücktritt folgen: vom Fraktionsvorsitz und als Kandidatin. Ausgerechnet Terry Reintke, sonst schnell mit dem Vertuschungsvorwurf gegenüber den anderen Parteien, vertuscht jetzt selbst und kann deswegen nicht mehr Kandidatin bei der Wahl zum EU-Parlament bleiben.

Der FRED von Christine Anderson. Ein konkreter Vorschlag zur Zukunft des Frauenausschusses des EU-Parlaments (FEMM) in der nächsten Wahlperiode kommt überraschenderweise von der Obfrau der Fraktion „Identität & Demokratie“, Christine Anderson (Hessen). Sie fordert nicht etwa die ersatzlose Abschaffung des Frauenausschusses, wie man das als patzige Breitseite von der AfD nicht ausschließen würde. Stattdessen schlägt Anderson die institutionelle Neuausrichtung dieses immer wieder umstrittenen Ausschusses vor. Niemand stellt ja ernsthaft infrage, dass der Frauenausschuss seit seiner Vorsitzenden Anna Záborská (Slowakei, 2004-2009) keine sinnvollen Entschliessungsvorlagen mehr produzierte. Gesetzgebungsarbeit macht er auch nicht. Doch abschaffen wird man ihn wiederum auch nicht können, weil ausgerechnet CDU und CSU daran festhalten werden, denn der Frauenausschuss wurde 1984 erstmals von der CDU-Politikerin Marlene Lenz einberufen und geleitet. Also schlägt Anderson jetzt vor, den Frauenausschuss in der neuen Wahlperiode zu einem gemeinsamen Unterausschuss der zuständigen Fachausschüsse „Arbeit und Soziales“ und „Inneres“ zu machen, weil sie gemäß dem EU-Vertrag für Gleichstellungsfragen zuständig sind. Ein Vorbild gibt es dafür schon, nämlich die gemeinsamen Unterausschüsse „Sicherheit und Verteidigung“ sowie „Menschenrechte“ für die Ausschüsse für Auswärtige Angelegenheiten und Entwicklungszusammenarbeit. Einen Namen gibt es auch schon, hört man am Platz Luxemburg: FRED, ein übliches Kürzel der Ausschussnamen aus vier Buchstaben, mal auf Englisch, mal auf Französisch, für: Femmes, Rights, Responsability, Employment, Equal Opportunities, Development, Diversity.

Derweil beginnt der Wahlkampf für die Wahl zum EU-Parlament am 9. Juni. In Bukarest wurde die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, von 51 % der Delegierten der Europäischen Volkspartei zur „Spitzenkandidatin“ gekürt. Sie erhielt 400 Ja-Stimmen von 801 stimmberechtigten Delegierten. Einen Gegenkandidaten gab es nicht. Jetzt muss Frau von der Leyen nur noch auf einen Wahlvorschlag der CDU beim Wahlleiter angemeldet werden, damit sie auch wirklich Kandidatin ist. Andernfalls riskiert sie eine Menge Ärger wegen Wahlbetrug, denn sich als Spitzenkandidatin auszugeben und mit öffentlichen Geldern Wahlkampf zu machen, ohne auf einem gültigen Wahlvorschlag zu stehen, ist leider nicht rechtens.

In Frankreich haben Marine Le Pen und Jordan Bardella den Wahlkampf vom Rassemblement national eröffnet und dabei eine bei ihnen ungewohnte Melodie über „sowohl Frankreich als auch die EU“ angestimmt. Das Prinzip „sowohl als auch“ kennt man sonst eigentlich nur von Staatspräsident Emmanuel Macron. Aber für den ist die EU-Wahl noch in weiter Ferne und zudem ein grosses Risiko. Er hat jetzt erstmal das Recht auf Abtreibung in die französische Verfassung aufnehmen lassen. Man muss halt Prioritäten haben.

Kommen Sie gut durch den Frühling und zählen Sie, wie wir in Brüssel, die Tage bis zur Europawahl am 9. Juni. Der Countdown läuft.

Ihr Junius

Die Leser kennen Junius seit vielen Jahren und trotz aller widrigen Umstände des Lebens wird Junius im „Brief aus Brüssel“ auch in diesem Jahr treu und objektiv über die politischen Entwicklungen in der EU in Brüssel berichten.

Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.

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