Wer Zeit haben will muss sie erst einmal finden – so lässt sich der Tenor des neuen Buches der Künstlerin und Schriftstellerin Jenny Odell zusammenfassen. Nach ihrem ersten erfolgreichen Buch „Nichts tun“ (2022) legt die Autorin nach und schreibt keinen profanen Zeitratgeber, sondern konstruiert meisterhaft ein „konzeptionelles Hilfsmittel“ für ein anderes Zeitverständnis. Dabei will sie die Dissonanz der verschiedenen Uhren aufzeigen – die persönliche Uhr, die abstrakte Uhr, die alltägliche und die apokalyptische Uhr – und darin verweilen. Odell möchte in der Quintessenz diejenige Zeitform „retten“, bei der alles in Bewegung bleibt und den beständigen Wandel der Gegenwart bewusst annehmen, da wir nur so „ihre fundamental irreduzible und schöpferische Natur wiederherstellen“ (S. 34).

Odell schreibt vordergründig über Zeitphänomene wie Freizeit, Muße, Burnout oder Drogenkonsum. Doch dahinter hört man Herrschaftskritik und Kapitalismuskritik im postmodernen Gewand. Denn Odell geht es nicht nur um einen persönlichen Anstoß, Zeit anders zu interpretieren, sondern auch darum, gemeinsam mit (klima-)politischen Aktivisten strukturelle Veränderungen anzustoßen. Denn entgegen der allgemeinen Annahme sei Zeit nicht gleich verteilt. Zeit zu haben sei ein Privileg, das in bestimmten Gruppen der Gesellschaft unterrepräsentiert ist: Frauen, Sklaven, behinderten Menschen und People of Colour. So ist das Buch ist in emanzipatorischer, utopischer und gesellschaftskritischer Tradition verfasst und als „panoramischer Angriff auf den Nihilismus“ (S. 33) und Zynismus zu verstehen, von dem sich die Autorin bedroht fühlt, denn sie kämpfe existenziell mit dem „Kummer einer Person, die in einer Welt existiert“ (S. 2 56).

Zum Inhalt

Das Buch hat passenderweise sieben Kapitel und ist mit Vorwort, Conclusio und Anhang über 400 Seiten stark. Kapitel eins geht der Frage nach der Entstehung der zeitlichen Taktung nach und fragt: Wer kauft wessen Zeit? Wieviel ist Zeit wert? Die Aussage „Zeit ist Geld“ sei ebenso zu hinterfragen wie die Trennung und Abstraktion von Zeit und Raum. Kapitel zwei kritisiert die kapitalistisch geprägte Wachstumslogik und ermutigt zum Selbst-Timing und zur Ehrgeizminimierung, um sich selbst zu retten. Kapitel drei fragt danach, ob das Konzept Freizeit Existenzberechtigung hat. Kapitel vier will die Zeit wieder an ihren Platz rücken. Kapitel fünf nimmt einen Subjektwechsel vor, indem man den eigenen temporalen Schwerpunkt verlagert. Ja, die Welt endet, aber welche Welt? Über ungewöhnliche Zeiten wird in Kapitel sechs berichtet, während Kapitel sieben die Lebenserweiterung zum Ziel hat.

Wurde Zeit früher durch die Religion definiert und vom Jüngsten Gericht beschlossen, so gibt sich das Phänomen Zeit in der Postmoderne vielschichtiger. Freilich ist die Unterscheidung von chronos und kairos noch diskutierbar, doch ansonsten gibt heutzutage die „Climate Clock“ der Welt den Takt. Hier wandeln wir von Kipppunkt zu Kipppunkt und das Ende scheint ebenso ausausweichlich und bedrohlich wie das Bücheraufschlagen im Jüngsten Gericht. Welchen Sinn macht da ein lineares Zeitverständnis, wenn das Ende naht? Ist das zyklische Zeitverständnis indigener Völker da nicht eine attraktive Alternative? Doch wirklich stringent geht Odell nicht darauf ein, sondern scheint eher einen dritten Weg zu gehen. Angesichts des drohenden Chaos „clustert“ die Lehrbeauftragte an der Stanford University die Zeit. So werden die inhaltlichen Ausführungen der Kapitel als Ideencluster zu einem Stichwort präsentiert, vermischt mit Anekdoten aus dem eigenen kulturellen Großstadterleben, wie Film- und Literaturbonmots.

Zum Buch

Der Stil des Buches ist ebenso wenig linear, eher eklektizistisch: Ergebnisse aus Recherche, zitierte Fachartikel und Aufsätze, Film und Literaturszenen werden mit Kapitalismuskritik und völlig belanglosen eigenen Anekdoten vermischt und kreisen um eine Zeitfacette. Das so entstandene Cluster ist als Collage zu verstehen, die der Leser sich selbst erschließen muss. Das Erschließen ist je nach Präferenz des Lesenden anregend, herausfordernd bis zäh. Diese Vorgehensweise macht das Werk zu einem postmodernen, emanzipatorischen Kunstwerk in Form einer kritisch-literarischen Collage über das vorherrschende kapitalistisch geprägte Zeitverständnis.

Zeit finden ist ein Buch aus der Bay-Area, wo das Silicon Valley nicht weit weg ist und wo Parks und Bibliotheken rar sind. Man spürt die Sehnsucht nach Natürlichkeit und Ganzheitlichkeit in einer fragmentierten, künstlichen und kapitalistischen Gegenwart, in der der Alltag zudem noch von der Pandemie bedroht war. So sind die botanischen, geologischen und zoologischen Beobachtungen der Autorin die Seelenstreichler für eine gepeinigte und vom Weltuntergang bedrohte Existenz. Für Adventisten, die sich ja mit dem Weltuntergang bestens auskennen, ist die Tatsache interessant, dass Odell adventistische Vorfahren hat und mit dem Konzept des Sabbats vertraut ist (S. 266), dem die Sieben-Tage-Woche zugrunde liegt.

Zum Schluss endet Odell mit dem einzigen Takt, der für sie wirklich zählt, nämlich dem eigenen Herzschlag: „Während das Wasser um mich her brauste, nahm ich die Schläge meines Herzens wie Worte wahr“ (S. 373). Spätestens jetzt versinkt der auf sich selbst gestellte Mensch im unendlichen Meer der entgrenzten und sinnentleerten Zeit, dessen Ränder sich klimatisch bedingt immer bedrohlicher Richtung Zivilisation schieben. Wenn der Horizont langsam aber sicher verschwindet, dann ist wahrhaft die Apokalypse gekommen, nicht nur im biblischen Sinne.

Buchrezension

Jenny Odell:  Zeit finden. Jenseits des durchgetakteten Lebens.

Verlag C.H. Beck, München 2023

440 Seiten,

Hardcover: 28,00 Euro.

E-Book: 21,99 Euro.

ISBN-10: 3406807704

ISBN-13:978-3406807701

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