Am 30. Oktober gewann der linksgerichtete Lula da Silva mit 50,9 % vor dem amtierenden Präsidenten Bolsonaro mit 49,1 % die Präsidentenwahl in Brasilien. Das ist der engste Vorsprung seit der Rückkehr zu demokratischen Wahlen im Jahr 1989. Es ist das erste Mal, dass ein amtierender Präsident bei einer Wiederwahl gescheitert ist. Es überrascht nicht, dass Lulas hauchdünner Vorsprung zu Unruhen führte. Einige radikale Lastwagenfahrer blockierten für einige Tage die Straßen, um Bolsonaro zu unterstützen. Obwohl die Protestgruppe relativ klein war, störten die Blockaden die Lieferketten stark, da mehr als 60 % der Fracht auf der Straße transportiert werden. Der Kreditversicherer hält eine längere Periode der Unruhe zwischen verschiedenen Gruppen eingefleischter Unterstützer für wahrscheinlich, zumal Bolsonaro das Wahlergebnis am 22. November, drei Wochen später, in Frage stellte. Allerdings haben Brasiliens Gerichte sowie nationale und internationale politische Führer das Ergebnis bereits akzeptiert. Credendo erwartet auch angesichts der relativ starken Institutionen und der Geschichte des friedlichen Machtwechsels, dass die Unruhen vorübergehend sind und nicht eskalieren.

Lula erbte ein polarisiertes Land, einen gespaltenen Kongress und eine mächtige rechte Bewegung. Die rechtsextreme Partei des scheidenden Präsidenten Bolsonaro wird ab Januar die stärkste Einzelkraft in beiden Kammern des Kongresses sein. Vor seinem Amtsantritt am 1. Januar strebt Lula eine Koalition mit einfacher Mehrheit im Kongress an. Credendo hält einen Erfolg für möglich, da Brasilien eine lange Geschichte von funktionierenden Mehrheiten im Kongress mit Präsidenten unterschiedlicher Ideologien hat.

Lula hat gesagt, dass seine oberste Priorität darin besteht, die Sozialausgaben zu erhöhen. Darüber hinaus kündigte er bereits an, Allianzen bilden zu wollen, um Brasiliens Obergrenzen für öffentliche Ausgaben aufzugeben. Diese Regeln dienen seit 2016 als Anker für fiskalpolitische Glaubwürdigkeit. Die verfassungsrechtlich vorgeschriebene Ausgabenobergrenze begrenzt Budgeterhöhungen auf die Inflation und war eine wichtige Fiskalreform, um die Staatsverschuldung auf einem tragfähigen Niveau zu halten. Allerdings wurde die Obergrenze kürzlich (vorübergehend) umgangen. Diese Umgehung wurde ziemlich schnell im Kongress akzeptiert. Daher geht Credendo davon aus, dass die Ausgabenobergrenze im kommenden Monat aufgehoben wird, zumal auch Bolsonaros Partei dagegen ist. Wahrscheinlich wird es aber einen weiteren Mechanismus oder alternative Fiskalregeln geben, die das Vertrauen in die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung stärken. Die Staatsverschuldung ist bereits relativ hoch und wird Ende 2022 auf rund 88 % des BIP geschätzt. Seit Lulas Ankündigung waren die Finanzmärkte volatil und der brasilianische Real begann abzuwerten. Credendo erwartet weitere Nervosität angesichts strengerer globaler Finanzierungsbedingungen und der Möglichkeit, dass die Staatsverschuldung auf ein sehr hohes Niveau getrieben wird. Perspektivisch werden neben anderen Fiskalregeln auch höhere oder neue Steuern notwendig sein, um höhere Sozialausgaben zu kompensieren. Ein wahrscheinliches Szenario wäre, dass Vorschläge für eine progressive Besteuerung oder Einkommensbesteuerung der Reichen gemacht werden.

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